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The Global Relevance of Mahatma Gandhi - Die globale Bedeutung Mahatma Gandhis

 

 

Ansprache anlässlich des 133. Geburtstages von Mahatma Gandhi im Tagore-Zentrum von Prof. Jürgen Lütt

 

 

Wir feiern Mahatma Gandhis Geburtstag nicht zum ersten Mal im Indischen Kulturzentrum zusammen mit der Deutsch-Indischen Gesellschaft. In der Stormstraße haben in den letzten acht Jahren mehrmals Geburtstagsfeiern zu Ehren Gandhis stattgefunden. Hier im neuen Botschaftsgebäude in der Tiergartenstraße ist es das erste Mal. Aber es gibt noch mehr Orte in Berlin, wo immer wieder des Mahatmas gedacht wird. Es scheint so, als ob Berlin ein Schwerpunkt der Beschäftigung mit Gandhi geworden sei, - das wäre nicht unpassend, hat doch Berlin in seiner Geschichte genug mit Gewalt zu tun gehabt.

 

Was die Beschäftigung mit Gandhi in Berlin angeht, erinnere ich an den Friedensforscher Theodor Ebert, Professor an der Freien Universität, der seit den späten sechziger Jahren Beispiele für gewaltlose Politik im Sinne von Mahatma Gandhi untersucht hat; ich erinnere an das Gandhi-Informations-Zentrum, dessen einer Gründer und Leiter - Peter Rühe - heute einer der aktivsten Verbreiter der Botschaft Mahatma Gandhis in aller Welt ist. Seine einzigartige Spezialbibliothek mit etwa 1200 Werken von Gandhi und über Gandhi ist jetzt in der Humboldt-Universität zugänglich. Dort wird auch immer wieder in Seminaren und Vorlesungen Leben und Werk Gandhis wissenschaftlich erforscht und an die Studenten weitervermittelt. Berlin darf sich rühmen, eine Mahatma-Gandhi-Schule zu haben, deren Schüler heute diese Feier mitgestalten. Wir haben schliesslich - last, but not least - einen oder vielleicht sogar den letzten lebenden Zeitzeugen und Mitstreiter Mahatma Gandhis, Botschafter a.D. Herbert Fischer, Ehrenmitglied der Deutsch-Indischen Gesellschaft, der auch heute wieder hier sprechen wird.

 

Bevor Herbert Fischer das Wort ergreift, lassen Sie mich kurz auf das Thema dieses Abends eingehen: "The Global Relevance of Mahatma Gandhi", also die globale, - früher hätte man gesagt -, die universale Bedeutung Mahatma Gandhis. Aber Relevanz heißt mehr als Bedeutung, eher Verbindlichkeit, Vorbildlichkeit. In eine Frage gekleidet: Ist Gandhi heute noch aktuell?

 

Kluft zwischen Verehrung und Nachahmung

 

Schon zu seinen Lebzeiten wurde die herausragende Bedeutung Gandhis weltweit erkannt, und auch nach seinem Tode im Jahre 1948 blieb er im Gedächtnis der Menschheit als einer der ganz Großen, aber wirklich nahe gebracht wurde er Millionen von Menschen auf der ganzen Welt durch den Film von Richard Attenborough aus dem Jahre 1982. Der Erfolg dieses Films war einmalig. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern: solchen Andrang und solche emotionalen Reaktionen auf einen Film habe ich weder vorher noch nachher je wieder erlebt. Der Film ist bis heute einer der meist besuchten Filme aller Zeiten geblieben. Durch diesen Film und das dazu gehörige Buch hat auch die jüngere Generation überall auf der Welt die Bedeutung Mahatma Gandhis sehr anschaulich kennengelernt.

 

 

Im Jahre 1998 stellte das amerikanische Time Magazine 21 Persönlichkeiten vor, die am stärksten das 20. Jahrhundert geprägt hätten - im Guten wie im Bösen: Eine davon war Mahatma Gandhi.

 

 

Bekanntheit, Berühmtheit, ja, Verehrung Gandhis - alles ist in der heutigen Welt vorhanden. Aber ist Gandhi nun auch tatsächlich nachgeahmt worden? Ist seine Politik zum Maßstab für das Handeln in irgendeinem der unzähligen Konflikte, die es seit dem Zweiten Weltkrieg gegeben hat, geworden? Der schon genannte Friedensforscher Professor Theodor Ebert hat die Erscheinungsformen gewaltlosen Widerstands in der Welt untersucht. Wenn man seine Schriften durchsieht, findet man, dass Gandhi als Vorbild zwar immer wieder vorkommt, aber es sind immer nur einzelne Aspekte, die von relativ kleinen Gruppen herausgegriffen werden, um sie auf die jeweilige Situation anzuwenden. Dagegen fehlt, soweit ich sehe, die große mit Gandhi vergleichbare Persönlichkeit, die seine Methode im großen Stil übernommen und daraus eine mächtige Bewegung gemacht hätte.

 

 

Zwei neuere Versuche, die Methoden Gandhis bei der Lösung von Bürgerkriegskonflikten zu übernehmen, sollen erwähnt werden: auf Sri Lanka durch den Tamilenführer S.J.V.Chelvanayakam und in Jugoslawien durch den Führer der Albaner Ibrahim Rugova. Beide versuchten eine Weile lang, mit gewaltlosem Widerstand ihr Ziel zu erreichen. Chelvanayakam hatte jahrelang mit Gandhi'schen Methoden versucht, die Gleichberechtigung der Tamilen auf Sri Lanka durchzusetzen, ohne jeden Erfolg. Noch 1972 appellierte er an seine Tamilen, auf Gewalt zu verzichten "even in the face of provocation" and "to have faith in non-violence, which alone can help us and take us to our desired goal". Aber schon ein Jahr später drängten die gewaltbereiten Kräfte immer stärker nach vorne, vor allem unter den jüngeren Leuten. Ab 1973 eskalierte der Konflikt, bis es 1983 zum offenen Bürgerkrieg kam.

 

 

In Jugoslawien versuchte seit 1992 Ibrahim Rugova, mit einem gewaltfreien Kurs die Albaner des Kosovo aus der Unterdrückung durch die Serben in die staatliche Selbständigkeit zu führen. Nachdem im März 1998 ein Parlament und er selbst mit überwältigender Mehrheit zum Präsidenten der "Republik Kosovo' gewählt worden waren, löste serbische Polizei die Versammlung auf. Wenige Monate später, Ende November 1998, proklamierte die Befreiungsarmee des Kosovo (UCK) den gewaltsamen Kampf gegen die serbische Herrschaft.

 

 

Also sowohl Chelvanayakam als auch Rugova konnten nicht verhindern, dass die Gewalttäter, Tamil Tiger und UCK, sich durchsetzten. Das Ergebnis ist bekannt: die beiden Konflikte wurden zu den bittersten und blutigsten der letzten Zeit. Es wäre eine interessante Aufgabe für Wissenschaftler der jeweiligen Disziplinen, an diesen beiden Fällen zu untersuchen, warum die gewaltlose Politik dort gescheitert ist.

 

 

Gandhi: Anachronismus in der heutigen westlich geprägten Welt?

Was könnten die Gründe für die fehlende oder erfolglose Nachahmung Gandhis in Konflikten der heutigen Welt sein? Konnte Gandhi nur in einer bestimmten historischen Situation erfolgreich sein, also etwa unter der "Milde der britischen Herrschaft"? Oder nur in einem bestimmten kulturellen Umfeld, dem indischen also?

 

 

1. Zur historischen Situation

Die Milde der britischen Herrschaft? Wenn man genauer hinsieht, war die Britische Herrschaft keineswegs so milde. Besonders schlimm waren die Repressionen von 1930 und 1932. Churchills Politik gegenüber Indien und speziell Gandhi während des Zweiten Weltkriegs, vor allem 1942 und 1943 war auch nicht gerade durch Milde ausgezeichnet. Aber zugegeben: Die Briten taten nicht, was Adolf Hitler 1936 dem britischen Außenminister Halifax geraten haben soll, nämlich Gandhi einfach zu erschießen, und wenn das nicht helfen sollte, 200 seiner engsten Mitarbeiter dazu. Die Briten taten auch nicht, was Stalin tat: jeden Missliebigen einfach zu erschießen oder in den Gulag zu schicken. Aber die Gegenfrage sei erlaubt: was ist aus Hitler geworden und was aus Stalin und ihrer jeweiligen Herrschaft? Und was wäre aus England geworden, wenn es die Methoden Hitlers und Stalins tatsächlich im großen Stil in Indien angewandt hätte?

 

 

2. Zum kulturellen Argument

Als es im Herbst 1932 um die Frage ging, ob die Unberührbaren getrennt wählen sollten oder mit den übrigen Hindus, begann Gandhi ein Fasten "bis zum Tode", wenn es zu getrennten Wahlen kommen sollte. Nach einer Woche Fasten setzte er sich gegen seinen Gegenspieler Ambedkar durch. Das kommentierte die englische Zeitung The Economist aus London in folgender Weise:

 

 

"Das ist die indische Art, grosse Dinge zu tun, und sie ist sicherlich sehr unwestlich. Man stelle sich einmal vor, der Präsidentschaftskandidat der Demokraten Frank!in Roosevelt verkünde, er wolle bis zum Tode fasten, wenn nicht die Demokraten des Südens die Diskriminierung der Schwarzen abschafften und ihnen erlaubten, ihre Bürgerrechte voll auszuüben. In einem solchen Falle wäre Mr. Roosevelt ein erledigter Mann. Er würde einfach verhungern, und kein Gremium von weissen und schwarzen Politikern könnte ihn durch einen sensationellen Pakt davor retten. Wenn man in der westlichen Geschichte nach einem vergleichbaren Beispiel suchen wollte, so müsste man schon bis ins 5. Jahrhundert zurückgehen, als der Säulenheilige Daniel den damaligen Kaiser bezwang, indem er seine Drohung, von der Säule herabzusteigen, wahr machte."

 

 

Im Indien von 1932 dagegen wurde Gandhis Fasten verstanden. Das Fasten (nicht zu verwechseln mit Hungerstreik) sind Teil der indischen Kultur, ja Religion, und daher wurde Gandhis Verhalten von den indischen Massen sofort verstanden, und die indischen Politiker mussten sich darauf einstellen. Zur indischen Religion gehört auch das Ideal der Enthaltsamkeit in jeder Form.

 

 

Religiosität und besonders Enthaltsamkeit waren für Gandhi wesentliche Voraussetzungen seiner Methode der Gewaltlosigkeit. Die heutige sog. Westliche bzw. Moderne Zivilisation ist aber durch Werte gekennzeichnet, die genau das Gegenteil besagen: nämlich durch völlige Säkularisierung im Sinne von Verweltlichung, Religionslosigkeit, und durch den Konsum als Lebensinhalt, das Sich-Ausleben ("Selbstverwirklichung"), kurz gesagt: durch den Hedonismus. Den Menschen dieser Zivilisation muss eine Gestalt wie Gandhi letztlich fremd bleiben, wie immer sie im übrigen seine gewaltlose Politik schätzen mögen.

 

 

Nun ergibt sich die Frage: Kann man Gandhis Politik der Gewaltlosigkeit von seinen angeblich zeit- und kulturgebundenen Zügen lösen? Diese Frage wage ich noch nicht zu beantworten. Soweit eine solche Trennung bisher vorgenommen worden ist, hat diese Methode aber offensichtlich bei weitem nicht so gewirkt, wie es bei Gandhi der Fall gewesen ist.

 

3. Gandhis Methode: eine Aufgabe der Zukunft

Wenn wir einmal von dieser bisher unbeantwortbaren Frage absehen, so ist im Zusammenhang mit der Nachahmung Gandhis ein Irrtum weit verbreitet: dass nämlich Gandhis Methode die leichtere sei. Nichts könnte falscher sein.

 

Gandhis Methode ist mindestens so schwierig und aufwendig wie die gewaltsame. Sie ist kein leichter Weg, keine "billige Masche". Sie fordert Opfer, auch blutige Opfer. Sie kann zunächst Niederlagen erleiden. Wie in einem Kriege Tausende von Soldaten und Zivilisten getötet werden, müssen auch die gewaltlosen Kämpfer mit hohen Verlusten rechnen. Tatsächlich wurden während des Zweiten Weltkriegs in der Sowjetunion z.B. die Tolstojaner, als sie den Kriegsdienst mit der Waffe verweigerten, verfolgt und erschossen. Aber dort, wo die gewaltlose Methode erfolgreich angewendet wird, gibt es am Ende insgesamt weniger Opfer und einen dauerhafteren Erfolg. Das macht sie nach wie vor attraktiv, ja nötig.

 

 

Gandhi selbst versuchte, diese Schwierigkeiten und die damit verbundene Opferbereitschaft seinen prospektiven Anhängern immer wieder klarzumachen.

 

 

Jawaharlal Nehru schildert in seiner Autobiographie, wie Gandhi 1920 die Anhänger der Muslim League zum gewaltlosen Kampf zu überreden versuchte:

 

 

"This is going to be a great struggle, he said, with a powerful adversary. If you want to take it up, you must be prepared to lose everything, and you must subject yourself to the strictest non-violence and discipline. When war is declared martial law prevails and in our non-violent struggle there will also have to be dictatorship and martial law on our side, if we are to win. You have every right to kick me out, to demand my head, or to punish me whenever and howsoever you choose. But so long as you choose to keep me as your leader you must accept my conditions, you must accept dictatorship and the discipline of martial law. But that dictatorship will always be subject to your goodwill and to your acceptance and to your cooperation."

 

Zusammenfassend möchte ich feststellen, dass wir erst am Anfang der Erprobung von Mahatma Gandhis Methode des gewaltlosen Kampfes bzw. der gewaltosen Lösung von Konflikten stehen. Je größer das Zerstörungspotential der modernen Waffen wird, umso wichtiger wird es sein, eine gewaltlose Alternative zu finden. Aber das ist keine leichte Angelegenheit. Es wird mindestens so viel Scharfsinn darauf zu verwenden sein, wie bis jetzt auf die Konstruktion von tödlichen Waffen verwandt wird, und es wird soviel Opferbereitschaft nötig sein, wie sie jetzt von den Soldaten erwartet wird, die in den Krieg ziehen.