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Gandhi und ich

Eine Autobiografie

 

von Peter Rühe

 

 

Inhalt

 

Vorwort

Einleitung

Kindheit

Jugend

Friedensbewegung

Indien

Gandhi

1984

1985

1986

1987/1988

1989

1990

1991

1992/1993

1994

1995

1996

1998

...

(Fortsetzung folgt)

 

 

 

The Occident made me a man, the Orient a child again

 

 

Vorwort

Ich bin jetzt Mitte Sechzig: alt genug, um das Leben Revue passieren zu lassen und darüber zu reflektieren aber zu jung, um eine endgültige Bilanz zu ziehen. Daher ist das vorliegende Werk ein Zwischenbericht und gibt meine aktuellen Ansichten und Meinungen wieder. Da das Leben jedoch ein Prozess ist und ich mich in einem ständigen Wandel befinde, ist auch meine Haltung zu einzelnen Aspekten davon abhängig und kann sich ändern. Der Vorteil der Veröffentlichung eines Werks auf einer Website besteht darin, dass es jederzeit geändert, vervollständigt oder korrigiert werden kann. Das Aufschreiben meiner Erinnerungen ist ein fortlaufender Prozess und ich werde von Zeit zu Zeit Ergänzungen oder Korrekturen vornehmen. Daher ist das, was Sie hier lesen, immer die aktuellste Version.

Bitte zögern Sie nicht, mich zu kontaktieren, wenn Sie Fragen oder Kommentare haben

 

Einleitung

Ganz grob kann mein Leben bislang in drei Phasen eingeteilt werden: in der ersten Phase stand der Fussball im Mittelpunkt und hat meine Kindheit und Jugend bestimmt. In der zweiten Phase, die etwa 35 Jahre andauerte, habe ich mich intensiv Indien gewidmet und insbesondere dem Leben und Wirken von Mahatma Gandhi. In der dritten Phase, in der ich mich gegenwärtig befinde, geniesse ich meinen langsamen Einstieg ins Rentnerdasein in Thailand.

 

Kindheit

Nach Ende des 2. Weltkriegs wurde meine Familie mütterlicherseits aus ihrer Heimat östlich von Berlin durch die Polen vertrieben. Ihnen wurde nur das gelassen, was sie am Leib trugen und in Karren transportieren konnten. Auf dem Treck gen Norden starb die jüngste Schwester meiner Mutter an Thypus. In Wietow bei Wismar haben sie in neues Leben begonnen. Meine Mutter kam später als Zimmermädchen nach Teltow bei Berlin. Mein Vater wurde als 17-jähriger Soldat und erlitt in der ersten Woche an der Front einen Bauchschuss sowie eine Knieverletzung und kam zunächst in US-amerikanische Kriegsgefangenschaft. Er befand sich ein Jahr in einem Gefängnis in den Südstaaten der USA, wo er u.a. Schach lernte und sich sportlich betätigte. Nach Kriegsende wurde er nach Frankreich deportiert, wo er ein paar Jahre im Hafen von Marseille und in einem Stahlwerk arbeitete. Zurückgekehrt nach Berlin nahm er Hilfsarbeiterjobs an und kümmerte sich um seine vom Krieg gezeichneten Eltern. Meine Mutter lernte er bei einer Tanzveranstaltung in der „Neuen Welt“ in der Hasenheide kennen. Sie heirateten und am 12. Mai 1957 wurde ich geboren.

Meine Kindheit verlebte ich mit meinen Eltern als Untermieter in einer kleinen Dachgeschosswohnung in Berlin-Rudow. Ich wuchs behütet auf, stets umgeben von meinen Eltern, Grosseltern und „Tante Gothner“, der Eigentümerin des Hauses und ihrem Mann. Deren Sohn Klaus war über 5 Jahre älter als ich und somit nur ein bedingter Spielgefährte. Eine zwei Jahre ältere Kusine kam uns ab und zu aus Wismar besuchen, an gleichaltrige Spielkameraden kann ich mich nicht erinnern, Wir hatten Hühner im Stall und meine Oma väterlicherseits hatte einen Hund „Purzel“; diese waren meine hauptsächlichen Spielkameraden in meiner frühesten Kindheit. Ich veranstaltete Schneckenrennen auf meinen Beinen und spielte mit Regenwürmern.

Mein Holzroller bereitete mir grosse Freude und ich war täglich an der frischen Luft. Es waren bescheidene Verhältnisse unter denen ich aufwuchs aber die Liebe und Fürsorge meiner Eltern erlaubten mir eine glückliche und unbeschwerte Kindheit.

1961, als ich vier Jahre alt war, kauften sich meine Eltern ihr erstes Auto, einen Lloyd Alexander. Mit dem haben wir dann Reisen in Deutschland unternommen und bis nach Italien, was für uns alle ein Riesenerlebnis war. Mit fünf zogen wir nach Buckow um in eine komfortable 2,5-Zimmer Mietwohnung und ich kam in die Schule. Ich war ein eher ruhiger und mittelmässiger Schüler, allerdings machte mir der Sportunterricht immer viel Spass.

Mit sieben meldete mich mein Vater in einem Fussballverein an, Britz-Süd 49, wo ich anfangs als Verteidiger eingesetzt wurde. Nach kurzer Zeit wurde jedoch mein Torwarttalent gewürdigt und ich durfte zwischen den Pfosten stehen. Meine Vorbilder waren damals zunächst Hans Tilkowski, von meinem Lieblingsverein Borussia Dortmund und später der legendäre Sepp Maier vom FC Bayern München.
1966, als ich neun Jahre alt war, wurde meine Schwester Corinna geboren, deren Anwesenheit ich zwar freudig zur Kenntnis nahm, wir aufgrund des Altersunterschieds aber nur bedingt was miteinander anfangen konnten. Das sollte sich natürlich im Laufe des Lebens ändern und heute gehört sie meinem engsten Vertrautenkreis. 

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Jugend

Meine Jugend war geprägt von meiner Fussballversessenheit: neben dem Training im Verein, spielte ich täglich mit meinen Kumpels auf dem umzäunten Sandplatz vor dem Haus und natürlich auch in der Schule, wo ich von Anfang an das Tor der Schulmannschaft hütete. Fussball wurde mein Leben und aufgrund meiner Trainingsbesessenheit wurden auch meine Leistungen immer besser. Darüber hinaus entwickelte ich meine eigenen Torwarthandschuhe, um sie griffiger zu machen und ich reparierte meinen Lederball selbst. Der Ball wurde nach jeder Benutzung, also täglich, gereinigt und mit Lederfett eingesalbt, damit er sich nicht so schnell mit Wasser vollsaugt und zu schwer wird. Ich hatte also von Anfang an einen Hang zur Weiterentwicklung und Verbesserung: der persönlichen und meiner Fussballutensilien. Mit 12 wechselte ich zum Polizei SV, mit dem wir ein paar schöne Fussballreisen zu Turnieren nach Westdeutschland unternahmen. Leider musste ich bald einen Brille tragen, was nicht sehr angenehm war. Es sollte noch fast 10 Jahre dauern, bis ich zu Kontaktlinsen überging. Als einige meiner Sportkameraden zum besserklassigen Blau-Weiss 90 wechselten, wechselte ich mit und spielte fortan in einer der besten B-Jugendmannschaften Berlins, aus der später Bundesliga- und sogar Nationalspieler erwuchsen. Ein Jahr vor dem Abi wurde meine Karriere jedoch jäh unterbrochen, da ich mich einer Knieoperation unterziehen musste. Eine erste, kleinere Knie-OP hatte ich bereits hinter mir und nun sollte eine Knochenentzündung behoben werden. Ich hatte den Einweisungstermin ins Krankenhaus einen Tag nach dem Endspiel der Fussball-WM 1974. Da WIR Weltmeister wurden, hat sich nach dem Endspiel die fussballbegeisterte Nachbarschaft auf dem Sandplatz versammelt und wir haben das – erfolgreiche  - Endspiel nachgespielt. Die Begeisterung kannte keine Grenzen und so kam es auch zu kleineren Blessuren, die kaum wahrgenommen wurden. Am nächsten Tag gab es allerdings im Krankenhaus ein böses Erwachen, als mir mitgeteilt wurde, dass die Operation wegen der kleinen Schürfwunde, die ich im „Endspiel“ davongetragen hatte, nicht durchgeführt werden kann. Egal, wir waren Weltmeister und da kommt’s auf ein paar Tage auch nicht drauf an. Ich hätte die Welt umarmen können! Eine Woche später kam es dann noch zur OP, die zum Glück gut verlief. Es gab nur einen Zwischenfall, der mir zeitlebens schmerzlich haften blieb: der Schlauch, der nach der OP das Wundsekret ableitet, wurde ein paar Tage nach der OP gezogen. Das heisst, der Pfleger versuchte den Schlauch zu ziehen. Ich ging bei jedem Versuch schmerzverzerrt an die Decke und vermutete, dass der Schlauch an die Haut angenäht wurde. Der Pfleger meinte nur, dass das nicht sein kann und zog nochmals, mit voller Kraft. Wenn der Schmerz mich nicht schier zerrissen hätte, wäre ich dem Kerl an die Gurgel gesprungen. Der Schlauch bewegte sich keinen Zentimeter und es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich von dem Stress erholt hatte. Als der Arzt dann ein Fenster in den Gips sägen liess, um nachschauen zu können, wurde festgestellt, dass der Schlauch tatsächlich an der Haut vernäht war. Der Pfleger meinte nur lapidar „kann ja mal vorkommen“ und mein Vertrauen ins medizinische Personal hatte einen argen Dämpfer erlitten. Dem sollten noch zahlreiche weitere folgen aber dazu später mehr. Ich verbrachte dann einen Monat im heissen Hochsommer mit Vollgipsbein im Krankenhaus und hoffte nur, dass ich bei Schulbeginn, meinem letzten Schuljahr, wieder fit sein würde. Das wurde ich, wenn auch anfangs mit Stützen im Schulunterricht. Ich musste auch schnell fit werden, schliesslich hatte ich Sport als Prüfungsfach. Fussball hatte ich zugunsten des Abiturs für eine Weile auf Eis gelegt. Ich trainierte hart und die Reha verlief gut, was sich noch auszeichnen sollte. Ich war immer ein mittelmässiger Schüler, einige Fächer lagen mir mehr als andere aber ich hatte zeitlebens ein Problem mit Vorträgen, Referaten und Prüfungen. Meine Nervosität machte mir häufig einen Strich durch die Rechnungen. So auch beim Abi. Nach den schriftlichen und mündlichen Prüfungen hatte ich nur wenige Punkte zusammen und ich musste das Prüfungsfach Sport mit mindestens 1- (13 Punkte) absolvieren, um das Abi geradeso zu bestehen. Der grosse Tag kam, auf den ich mich mental schon mehrere Jahre vorbereitet hatte. Ich hatte hart trainiert und war wieder in guter Form, konnte mir aber nicht sicher sein, ob ich es schaffen würde. An dem entscheidenden Tag siegte aber der Geist über den Körper und ich erzielte eine glatte 1, d.h. 14 Punkte. Damit hatte ich das Abi in der Tasche und war der glücklichste Mensch der Welt!

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Friedensbewegung

Nun begann der Ernst des Lebens! Auszug aus dem Elternhaus und einen eigenen Haushalt führen. Mit 19 fing ich eine Ausbildung zum Mathematisch-Technischen Assistenten bei der Firma Schering an, die heute zum BAYER-Konzern gehört und begann wieder Fussball zu spielen. Zunächst in einer Freizeitmannschaft und dann beim TuS Makkabi. Warum in einem jüdischen Verein, obwohl ich kein Jude bin? Ganz einfach, weil der Verein einen guten Torwart suchte und deshalb seine Prinzipien über den Haufen warf. Das tat der Verein übrigens aber nicht nur auf der Torwartposition. Wir hatten eine tolle Mannschaft zusammen und stiegen schon im ersten Jahr in die Landesliga auf. Eine Reise nach Israel, wo wir ein Testmatch absolvierten, brachte mir das Judentum und die Geschichte des Holocaust näher. Natürlich hatten wir in der Schule dieses Thema schon ausführlich behandelt, jedoch hat es nochmal eine andere Qualität wenn Überlebende eines Konzentrationslagers ihre Erfahrungen mitteilen. Ich habe mich auch oft mit meinen Eltern über diese Zeit unterhalten und für mich realisiert, dass es in einem Krieg keine Sieger gibt, sondern ausschliesslich Verlierer. Obwohl ich persönlich nicht vom 2. Weltkrieg betroffen war, habe ich aus den Gesprächen mit meinen Eltern und anderen Zeitzeugen in Deutschland und nun auch in Israel, für mich das Fazit gezogen, dass ich alles in meiner Kraft befindliche daransetzen will, dass es nie wieder Krieg gibt. Ich will mich für eine friedliche Welt engagieren, wo alle Menschen, egal welcher Herkunft, Religion oder Geschlecht, miteinander zusammenleben können und wo Konflikte ohne Gewalt ausgetragen werden. Zunächst kam es aber anders: gemeinsam mit indischen Freunden und meiner damaligen Freundin eröffneten wir den „Internationalen Spezialitätenimbiss“ in Britz. Wir boten als eine der ersten Imbissstuben in Berlin indische Schnellimbissspezialitäten an. Seit einiger Zeit gab es auch Döner Kebab in Berlin, die von den türkischstämmigen Mitbürgern angeboten wurden: Kalbsfleischhack vom Spiess, mit Salat und einem Schuss Zitronensaft in einem Viertelfladenbrot serviert. So wurde er traditionell in der Türkei zubereitet und auch in den ersten Jahren in Berlin angeboten. Schnell wurde der schmackhafte Döner zur Konkurrenz zur wohletablierten Berliner Currywurst. Daher lag es nicht fern, dass auch wir den Döner in unserem Imbiss anboten. Anfangs stellten wir ihn noch selbst her und er schmeckte – zugegebenerweise – mehr nach Bulette als nach Döner. Aber wir waren erfinderisch: gerade von einer Reise nach Griechenland zurückgekehrt, wo meine Freundin und ich begeistert Gyros mit Tsatsikisosse aßen, verpassten wir auch unserem Döner eine Tsatsikisosse. Und das kam gut bei der Kundschaft an. Mittlerweile liessen wir uns den Döner von einem Händler liefern, der bei seinen täglichen Besuchen mitbekam, dass die Kundschaft gerne unseren Döner mit Sauce bestellte. Das hat der Händler auch anderen Restaurants und Imbisse, die er belieferte, berichtet, die nun in Windeseile anfingen eigene Sossen zu produzieren und dem Döner beizugeben. Der Rest ist Geschichte: heute hat man in jeder Dönerbude mehrere Saucen zur Auswahl: Kräuter, Knoblauch, scharf, … nur noch selten wird mal ein traditioneller Döner mit Zitronensaft bestellt. Unseren „Internationalen Spezialitätenimbiss“ mussten wir schon kurze Zeit später schliessen, da auf dem Gelände ein Spassbad eröffnet wurde aber der von uns eingeführte Döner mit Sosse blieb erhalten!

Mittlerweile befinden wir uns in Jahr 1982, ich arbeite schon seit 3 Jahren als Programmierer an der Technischen Universität und sympathisiere mit der Berliner Hausbesetzerbewegung und der gerade aufkommenden Friedensbewegung. Ich gründe nun, gemeinsam mit meinem ehemaligen Kollegen von Schering, Andi, und anderen ebenfalls friedensbewegten Freunden eine Wohngemeinschaft, wo wir nicht nur eigenhändig einen grossen Dachboden in Berlin-Friedenau ausbauen, auf dem ich dann 16 Jahre lang wohnen sollte, sondern wir diskutieren auch nächtelang über alle anstehenden Probleme dieser Welt. Wir waren uns einig darüber, dass diese – vielfältigen – Probleme ausschliesslich ohne Gewalt gelöst werden müssten, ähnlich wie es Gandhi tat. Gewaltfreier Widerstand, ziviler Ungehorsam, Steuerboykotts, und Sitzblockaden wurden nicht nur diskutiert, sondern auch durchgeführt. Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht! Die Anti-Atomkraftbewegung wuchs, Gorleben und Wendland wurden zum Schlagwort und wir Friedensaktivisten wurden en vogue, zumindest bei einem Teil der Bevölkerung. Gleichzeitig stellte ich Konventionen in Frage und experimentierte in zahlreichen Bereichen, wie Diät, Kleidung und Wohnform. Ich machte sozusagen meine eigenen „Experimente mit der Wahrheit“. Gandhis Autobiografie mit dem gleichnamigen Titel hatte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht gelesen. Überhaupt wusste ich bis dahin nur wenig über Gandhi, nämlich das, was wir in der Schule in ein paar Stunden zur indischen Unabhängigkeit lernten.

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Indien

Mein indischer Arbeitskollege und Freund, Ravinder, der mit seiner Frau Nirmala auch schon beim „Internationalen Spezialitätenimbiss“ mitmachte, brachte mir nun die indische Kultur und Philosophie näher, die mich ebenso faszinierten, wie die schmackhaften Speisen von Nirmala. Indien wurde für mich immer interessanter, auch weil ich mich ja schon im Rahmen der Friedensbewegung ein wenig mit Gandhi beschäftigt hatte. Da mich das Reisefieber schon seit meiner Jugend gepackt hatte, begleitete ich Ravinder und seine Familie auf ihrem nächsten Besuch in der Heimat, im Januar 1983. Die folgenden 10 Wochen sollten mein Leben nachhaltig beeinflussen. Indien erschien mir zunächst wie ein anderer Planet. Nach der Ankunft in Neu-Delhi fuhren wir im Taxi zu Ravinder's Freunden, wo wir die erste Nacht verbrachten. Diese Taxifahrt hatte es in sich und ich kann mich noch heute gut an sie erinnern: ich sass in der – zum Glück – gut abgeschirmten Blechbüchse und um mich herum wuselte auf den Strassen das Leben: Staub, Elefanten, Autos, Kamele, Motorräder, Kühe, Fahrräder und überall … Menschen. Sowas hatte ich noch nicht gesehen. Anfangs fragte ich mich wirklich: was will ich hier eigentlich und war heil froh, dass ich in der Obhut meines Freundes und seiner Familie war. Sie erklärten mir alles und das erleichterte mir den Einstieg sehr. Ich hatte das Glück, gleich in der ersten Woche an einer traditionellen Hochzeit teilnehmen zu dürfen, nämlich die Hochzeit des Bruders von Ravinder. Das war ein Erlebnis der besonderen Art, nämlich vorwiegend eine Herausforderung der Sinne: die Kapelle spielte unsäglich laut, das Essen roch und schmeckte fabelhaft und die farbenfrohen Saris interpretierte ich als einen Ausdruck von Lebensfreude. Die Hochzeitsgesellschaft, die aus mehreren hundert Teilnehmern bestand, war gut drauf und alle waren sehr freundlich zu mir. Ich habe das für mich das neue Leben von der ersten Minute aufgesogen wie ein Schwamm. So vieles kannte ich bis dahin nicht, z.B. dass man mit den Fingern essen kann, was selbst von „modernen“ Familien praktiziert wird. Nachdem mir das später in Fleisch und Blut übergegangen war, fragte ich mich wirklich, wozu man Werkzeuge benötigt, wie Messer und Gabel, um das Essen zu sich zu nehmen – völlig überflüssig!

Man kann das Essen viel besser dosieren und die Temperatur erfühlen, wenn man mit Fingern isst. Auch ist es von Vorteil auf dem Boden zu sitzen beim Essen, so wie es traditionell in Indien praktiziert wird. Das Blut schiesst dabei nicht vom Kopf in die Beine und macht uns müde, sondern bleibt, mehr oder weniger, in der horizontalen. Wenn man sich nach dem Essen dann noch ein paar Minuten in den Fersensitz begibt (Vajrasana) kann das Essen sogar optimal verdaut werden. Ich bin schon bei der ersten Begegnung in diese völlig andere Kultur eingetaucht, in den Tagesablauf, den Gewohnheiten, Denkweisen und den Religionen. Indien hat soviel zu bieten, insbesondere wenn man aus einer völlig anderen Kultur kommt. Wertvorstellungen werden auf den Kopf gestellt und das hat meinen Horizont enorm erweitert. Das fördert auch die Toleranz im Umgang mit anderen Menschen und führt dazu, dass man erstmal wertfrei auf etwas Neues guckt und vielleicht ja davon lernen kann. Und ich habe viel gelernt! Das Reisen aber insbesondere das Sein in Indien war für mich ein kontinuierlicher Lernprozess und die beste Universität, die ich besuchen konnte! Dass ich mir dafür die Zeit genommen habe und mein Leben entsprechend darauf eingestellt, erfüllt mich heute mit grosser Genugtuung. Und ich bin unendlich dankbar dafür, dass ich die – ausserordentliche - indische Gastfreundschaft geniessen und von den Menschen lernen durfte. Diese erste Reise nach Indien hat mein Leben nicht nur nachhaltig beeinflusst, sondern sie hat es verändert, stark verändert  - weil ich mich verändert habe. Nach einer Woche im behüteten Umfeld seiner Familie im Punjab gab mir Ravinder Adressen von Freunden, Bekannten und Verwandten im ganzen Land, die ich auf meiner anschliessenden achtwöchigen Rundreise, besuchte. Vom nordindischen Punjab fuhr ich die Westküste Richtung Süden bis nach Kanya Kumari, die Südspitze Indiens, und dann die Ostküste wieder hoch bis Kalkutta. Eine Woche verbrachte ich in Nepal, bevor ich dann wieder in den Punjab zurückkehrte. Ich wohnte die meiste Zeit bei diesen wunderbaren Menschen, mit denen ich fantastische Gespräche hatte über das Leben in Indien, das Leben in Deutschland und über Gott and die Welt. Die Herzlichkeit und Offenheit, mit der sie mich haben in ihr Leben eindringen lassen, war für mich eine grosse Chance, das Leben aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Meistens lebten drei oder sogar vier Generationen unter einem Dach und so konnte ich in zahlreichen Gesprächen mit den Alten Einblicke bekommen in das Indien vor der Unabhängigkeit, während die jüngere Generation eher am westlichen, konsumorientierten Lebensstil Interesse zeigte. Diese Bandbreite war für mich zwar spannend, aber als ‚friedensbewegter Zivilisationskritiker‘ interessierte ich mich mehr für die jüngere indische Geschichte und insbesondere die Unabhängigkeitsbewegung.

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Gandhi

Ende Januar war ich in Bombay angekommen, dem heutigen Mumbai, und wohnte bei einem Industriellen und seiner Familie. Mich beeindruckte von Anfang an, wie bescheiden er lebte und auftrat. Ganz und gar nicht das Bild, welches ich von einem Grossunternehmer hatte. Zugegebenerweise hatte ich aber bis dahin auch noch nie einen Unternehmer dieses Kalibers persönlich kennengelernt. Wir unterhielten uns über das Leben in Indien und er sprach oft von Gandhi. Er wies mich auf das Gandhi-Museum hin im südlichen Stadtteil Gamdevi, wo Gandhi bei seinen frühen Aufenthalten in Bombay wohnte. Weiterhin gab es zahlreiche geschichtsträchtige und sehr unterschiedliche Gegenden und Gebäude in Süd-Bombay, die ich mir mit grossem Imteresse ansah. Während meiner Stadtwanderung kam ich an einem grossen Platz vorbei, wo sich eine grössere Menschenmenge vor einem Kino drängelte. Ich schaute mir das Ganze aus der Distanz an und sah, wie aufgewühlt die Besucher der gerade beendeten Vorführung aus dem Kino kamen und wie erwartungsvoll die draussen ungeduldig wartende Menge ins Kino hineinströmte. Der Titel des Films, der hier gezeigt wurde, war „Gandhi“, ein Spielfilm über das Leben und Wirken des ‚Vaters der Nation‘, Mahatma Gandhi, der gerade erst in Indien angelaufen war und der später sieben Oscars erhalten sollte. Den Film wollte ich natürlich auch sehen, zum einen aus Interesse am Leben Gandhis aber auch, um die Atmosphäre in einem indischen Kino zu erleben, die offensichtlich so anders war als in Europa. Da der Film ein Thema behandelte, das die breite Öffentlichkeit ansprach, waren alle Vorstellungen für die nächsten Tage ausverkauft, was mein Interesse, den Film zu sehen, eher bestärkte. Ich kaufte mir eine Eintrittskarte für eine Vorstellung in drei Tagen und setzte meine Wanderung durch Bombay fort. Kurze Zeit später erreichte ich Mani Bhavan, das Gandhi-Museum in Bombay, das mir mein Gastgeber so ans Herz gelegt hatte. Nur leider war heute Montag, der Ruhetag des Museums. Das alte, gut erhaltene Gebäude liegt in einer schönen, für indische Verhältnisse, ruhigen Nebenstrasse mit alten Laburnum („Goldregen“)-Bäumen, die der Strasse auch den Namen gegeben haben. Eine Gegend, in die ich gerne zurückkehren werde. Bombay hat mich mit seinen Gegensätzen von Anfang an fasziniert, die wuseligen, farbenfrohen Märkte, die schönen, historischen Gebäude aus der Kolonialzeit, die modernen Wolkenkratzer der Superreichen, ebenso wie die Slums, wo ich unsägliches Elend erlebt habe. Erstaunlicherweise habe ich aber in den ärmeren Gegenden und Slums insgesamt mehr fröhliche und lachende Menschen gesehen, als in den Strassenschluchten mit den Hochhäusern der indischen Elite. Man kann sich schnell verlieren, wenn man durch die unzähligen Gassen und Nebenstrassen in Bombay streift, mit offenen Augen und Ohren. Ist doch die Stadt, wie Indien insgesamt, ein Sinneserfahrung, wie wir sie aus dem Okzident in dem Ausmass nicht kennen: zum einen grausamer Lärm, der durch die Strassen und aus dem Häusern schallt und zum anderen feinste Sitar- und Veenamusik, die das Herz zum Schmelzen bringen. Zum einen ein Gestank, bei dem ich mich häufig fast übergeben habe, und zum anderen der süssliche Duft der Wachsblume oder der Frangipani. Zum einen der Anblick des grausamen Elends in den Slums und zum anderen die wunderbare Architektur eines Taj Mahal und anderer sehr ästhetischer Ergebnisse der indischen Baukunst. Diese extremen Gegensätze haben mich gefangen genommen und zutiefst bewegt. Und nun war er da, der Tag in dem ich erstmals ein indisches Kino von innen sehen sollte! Das Regal-Kino im Süd-Bombayer Stadtteil Colaba ist ein altehrwürdiges, grosses Kino mit einem enormen Fassungsvermögen. Obwohl ich ein Ticket habe, muss ich mich reindrängeln, so wie ich mich überall an das Drängeln gewöhnen muss: im Zug, im Bus, in den Geschäften, auf den Märkten – eben überall. So herrscht auch im Kino, vor Beginn der Vorführung, eine Lebendigkeit, wie wir sie nur aus Fussballstadien kennen. Und plötzlich: Schweigen! Alle stehen auf, um dann lautstark die indische Nationalhymne mitzusingen. Da mir bis dato aus Gandhis Leben nicht allzu viele Details bekannt waren, schaute ich mir den Film sehr aufmerksam an und war überrascht, dass in einem Film, in dem es hauptsächlich um den ‚Propheten der Gewaltfreiheit‘ ging, so viel Gewalt gezeigt wurde. Bei meinem späteren, intensiven Studium der indischen Unabhängigkeitsbewegung sollte ich allerdings lernen, dass die Realität noch viel brutaler und grausamer war, als sie in Richard Attenboroughs Monumentalwerk gezeigt wurde. Immer wieder wurden meine Sinne von dem Film abgelenkt, wenn das Publikum kollektive Emotionsausbrüche pflegte: in Kampfszenen wurde lautstark mitgekämpft und in sentimentalen Szenen hat man das ganze Kino schluchzen gehört. Eine einmalige Atmosphäre! Das hat mir gefallen, denn so wurde der Film für mich noch eindrücklicher und bewegender. Gandhi war wirklich toll und ich wollte mehr über ihn wissen! Am nächsten Tag ging ich nochmal ins Gandhi-Museum. Zunächst beeindruckte mich vor allem die Authentizität des Gebäudes: der Raum, in dem Gandhi ‚residierte‘, war so erhalten, als ob er ihn gerade erst verlassen hätte. Neben dem grossen Spinnrad lag Gandhis Matratze, auf der er tagsüber im Schneidersitz sass und an einem kleinen, fast ebenerdigen Schreibpult Post erledigte. Alles erschien sehr minimalistisch aber zweckmässig. Bislang hatte ich, aufgrund meines Engagements in der Friedensbewegung, eher ja den politischen Gandhi kennengelernt. Nun bekomme ich jedoch auch einen kleinen Einblick in sein Lebensumfeld und seine Gewohnheiten. Was ich im Film und auch in den verschiedenen Ausstellungen des Gandhi-Museums über den kleinen Mann mit der runden Brille lernte, beeindruckte mich sehr. Ich kaufte mir im Museumshop Gandhis Autobiografie, ging auf die Dachterrasse des Museums und begann zu lesen und las und las und las. Ich konnte das Buch gar nicht zur Seite legen, so sehr verblüfften mich Gandhis Ansichten. In einer sehr einfachen und eingänglichen Sprache drückte Gandhi das aus, was ich bislang bruchstückhaft in meinen Kopf hatte. Er nahm auf nahezu alle Aspekte des Lebens Bezug und beschrieb eine ideale Gesellschaft, für die ich mich auch schon in Berlin angefangen hatte einzusetzen. Vor allem beeindruckten mich seine persönlichen Experimente mit der Wahrheit (Titel der Autobiografie), die ich auf meine Art und Weise ja auch schon begonnen hatte. Ich experimentierte mit Ernährung, habe regelmässig gefastet und mich am liebsten mit Sachen umgeben, die ich selbst hergestellt hatte oder selbst reparieren konnte. Menschenrechte, Konsumverzicht, Umweltschutz und Recycling hatten zu dem Zeitpunkt schon einen Stellenwert in meinem Leben. Und nun kam Gandhi hinzu, der nicht nur sehr eingängig von einer idealen Gesellschaft schreiben konnte, sondern es in seinem Leben auch vorlebte und damit aufzeigte, dass es möglich ist, sich massiv gegen Ungerechtigkeiten aufzulehnen und für eine bessere Mitwelt einzusetzen. Insofern hat die Bekanntschaft mit Gandhi mein Leben nicht verändert, sondern die Tendenz, die schon vorherrschte, verstärkt – und wie! Kurz bevor das Gandhi-Museum schloss, verliess ich die Dach-Terrasse und traf die damalige Präsidentin des Museums, Dr. Usha Mehta. Ich erzählte ihr von meiner Rundreise und teile ihr taufrisch meine Begeisterung für Gandhi mit. Sie gab mir noch Adressen von Gandhi-Institutionen, die auf der Strecke meiner bevorstehenden Rundreise lagen und wir verabschiedeten uns herzlich. Ich verliess das Museum mit dem Gefühl, das mein Leben gerade einen Quantensprung vollzogen hat.

Auf meiner weiteren Reise beschäftigte ich mich eingehend mit dem Leben und Wirken Gandhis und besuchte die von Ushabehn (Schwester Usha) vorgeschlagenen Ashrams, Museen, Sozial- und Bildungseinrichtungen. Ich hatte interessante Gespräche mit gandhischen Sozialarbeitern, Mitarbeitern und Verwandten von Gandhi. Für mich war und ist das Konzept des Friendens, wie er in den Veden vor tausenden Jahren festgelegt wurde, sehr eingängig: zunächst Frieden mit sich selbst zu schaffen, dann mit seiner unmittelbaren Mitwelt und dann mit dem gesamten Universum. Das ging zusammen, mit den damals im Westen propagierten Konzepten „Think globally, act locally“, „Small is beautiful“, „High thinking, simple living“ und „Live simply, so that others simply can live”. Aber es ging noch weit darüber hinaus. Alles was ich in diesen Tagen lernte, machte soviel Sinn und überzeugte mich, ein Leben der Einfachheit zu leben im Dienste der Gesellschaft. Es gab in Gandhis Konzept nichts, was ich nicht nachvollziehen und kaum etwas, was ich nicht auch für mich annehmen konnte. ‚Satya‘, ein wahrhaftiges Leben führen, ‚Ahimsa‘, Nicht-Gewalt in Gedanken und Tat, ‚Sarvodaya‘, die Wohlfahrt aller, ‚Satyagraha‘, das Festhalten an der Wahrheit, ‚Swadeshi‘, der Konsum und die Benutzung ausschliesslich lokaler Produkte usw. usw. Gandhi entwickelte ein ganzheitliches System, in dem er zu seiner Zeit Lösungsansätze und Handlungsanleitungen für Probleme aufgezeigt hat, die, genau betrachtet, auch heute noch existieren. Es gibt nach wie vor grosse Ungerechtigkeiten und Gewalt in verschiedenster Form in der Gesellschaft, wir stehen vor einer nuklearen und ökologischen Katastrophe, die Kraft der Massenvernichtungswaffen ist stärker denn je zuvor und viele Tier- und Pflanzenarten sind bereits unwiderbringlich ausgerottet. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, Gandhis Gedanken und Taten auf die heutige Zeit zu übertragen und die Relevanz der von ihm vorgelebten und propagierten Weltsicht zu erkennen. Für mich war jedenfalls unmittelbar klar, dass eine intelligente Übertragung von Gandhis Gedanken auf die heutige Zeit, in all seinen Facetten, nötig ist, um die grossen, existenziellen Probleme zu lösen und auch, um auf eine ideale Gesellschaft hinzuarbeiten.

Ich besuchte noch auf dieser, meiner ersten Reise nach Indien, Projekte, die im Sinne Gandhis ökologische Landwirtschaft betrieben, Entscheidungen im Konsenzprinzip fällten und sich die Kleidung und alles andere Lebensnotwendige weitestgehend selbst herstellten. Ich war begeistert von diesem Leben und von den Persönlichkeiten, die diese Werte lebten und vermittelten. Darüber hinaus war ich von den Werken beeindruckt, die von Gandhis Biografen, Vithalbhai K. Jhaveri, erstellt wurden. Sie präsentierten Gandhis gesamtes Leben en detail, was bedeutete, dass man für die Fotoausstellung in Delhi einen halben Tag einrechnen muss, der Dokumentarfilm dauert über 5 Stunden und die Bildbiografie hat 8 Bände mit jeweils über 500 Seiten! Ausserdem hat Jhaveri mit diesem multimedialen Ansatz ein absolutes Alleinstellungsmerkmal. Mit beidem, dem umfassenden und dem multimedialen Ansatz, hat mich Jhaveri überzeugt und wurde in meiner späteren Öffentlichkeitsarbeit zu einer steten Inspiration mit Vorbildcharakter.

Das frisch Erlernte und Erlebte füllte mich mit Begeisterung und der Erkenntnis, dass das im Westen vorherrschende Gandhi-Bild unzureichend ist und vervollständigt werden müsste. Ich war der Überzeugung, dass viele meiner Mitmenschen in Deutschland von Gandhis Leben und Wirken auf vielfältigste Art und Weise profitieren könnten, wenn sie nur die Gelegenheit zu einem eingehenden Studium hätten. Und ich hatte verspürt, dass es meine Aufgabe war, diese Mission zu übernehmen. Zudem hatte ich den Wunsch meine eigene Begeisterung für Gandhis Ansichten mit anderen zu teilen. Wie kann das aber am besten geschehen? Der erste Gedanke war, die kleinen, vom Navajivan-Verlag in Ahmedabad herausgegebenen Bücher über die verschiedenen Aspekte von Gandhis Weltsicht ins Deutsche zu übersetzen. Das hätte jedoch nur einen kleinen Teil der Gesellschaft erreicht, nämlich den lesenden. Meiner Ansicht nach, war Gandhi jedoch für jedermann und -frau interessant, jeglichen Alters oder Herkunft, wenn er/sie bereit wären, Gandhi eingehend zu studieren. Eine Ausstellung erschien mir das bessere Medium zu sein, um eine breite Bevölkerungsschicht zu erreichen. Hier konnten Fotos, Diagramme, Tabellen, Texte, Zeitungsartikel und Karikaturen präsentiert werden und im Beiprogramm Filme gezeigt und Vorträge gehalten. Da ist mit Sicherheit für jeden etwas dabei!

Nach meiner Rückkehr Ende März 1983 machte ich mich nun an die Arbeit: zunächst brauchte ich Mitarbeiter für dieses Projekt, denn ich hatte keinerlei Erfahrung im Ausstellungsbau und –organisation, lediglich einen ganz starken Willen, das gerade in Indien erlebte auf geeignete Weise, in Form einer Ausstellung, zu vermitteln. Im Rahmen einer Friedenswoche traf ich an der FU Berlin drei Studenten, die sich ebenfalls für Gandhi interessierten und bei dem Projekt mitmachen wollten. Die folgenden Monate haben dann Samantha, Mushtaq, Christian und ich damit verbracht, Ausstellungstafeln zu zimmern, Fotos und andere Ausstellungsmaterialien zu besorgen, ein umfangreiches Beiprogramm zu organisieren und Öffentlichkeitsarbeit zu machen. Finanziert hatte ich das Ganze aus der eigenen Tasche, um keine Energien und Zeit mit Fundraising zu verschwenden. Ich hatte ja meinen Job an der Uni und war der Meinung, dass, bei Gelingen, die Kosten über Spenden abgedeckt würden. Das hat sich zum Teil auch bewahrheitet und wir waren rund 10 Monate intensiv mit der Erstellung und Organisation der ersten umfassenden Ausstellung über das Leben und Wirken von Mahatma Gandhi in Deutschland beschäftigt.

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1984

Eröffnet wurde sie schliesslich am 30. Januar 1984, Gandhis 36. Todestag, auf dem Gelände der UFA-Fabrik, einem damals noch besetzten Areal, das vor dem 2. Weltkrieg der Universum Film AG als Kopierstätte und Archiv für Filme diente. Die Besetzer der UFA hatten gute Ideen für ein alternatives Leben und einen alternativen Kulturbetrieb und haben damit einige von Gandhis Ideen in die Tat umgesetzt. Einen besseren Veranstaltungsort hätten wir uns nicht wünschen können! Zum Gelände gehörte ein kleines aber feines Kino, in dem die Ausstellungseröffnung stattfand. In Vorfeld gab es einen erwähnenswerten Zwischenfall: der indische Konsul traf mit seiner grossen, schwarzen Limousine eine Stunde vor Beginn der Veranstaltung ein, womit er viel Aufsehen erregte. Bestand doch die damalige UFA-Fabrik - heute ein etabliertes internationales Kulturzentrum, was aus der Berliner Kulturlandschaft nicht mehr wegzudenken ist – aus einigen Werkstätten, einem Café, einer Bäckerei, Sport- und Theaterräumen, die die bürgerliche Nachbarschaft eher als schmuddelig bezeichnete. Die Anwesenheit eines offiziellen Vertreter Indiens bedeutete automatisch auch eine Aufwertung des illegal besetzten Geländes. Der Konsul, Mr. Chakravarty, sah sich die Ausstellung an und wir probten seinen Einsatz bei der bevorstehenden Veranstaltung. Da die Bestuhlung im Kino der UFA-Fabrik, so wie das ganze Gelände, in die Jahre gekommen war, versagte der Stuhl, auf dem der Konsul Platz nahm, seine Funktion und brach in sich zusammen. In seiner Eröffnungsrede nahm der geniale Juppy, das Aushängeschild der UFA-Fabrik, bezug auf diesen Vorfall und meinte „Bei der Probe ist der Konsul mit seinem Stuhl zusammengebrochen. Wir haben ihn umgehend ausgetauscht.“ Was für grosse Lacher im Publikum sorgte - auch beim Konsul. Zum Abschluss sagte Juppy „Nichts wie hin du (Hindu) zu Gandhi“, was sich leider nicht ins Englische übersetzen lässt. Da unsere Öffentlichkeitsarbeit offensichtlich nicht so schlecht war, kamen in dem ‚Berliner Gandhi-Monat‘ Anfang 1984 etwa 10.000 Besucher, was uns zu einer einmonatigen Verlängerung veranlasste. Parallel zur Ausstellung gab es Vorträge von namhaften Gandhi-Experten und -Aktivisten sowie zwei Filme: Attenboroughs GANDHI und Jhaveris über 5-stündiger Dokumentarfilm MAHATMA. Die erste Ausstellung auf dem Gelände der UFA-Fabrik war gelungen. Wir hatten das erhoffte, breitgefächerte Publikum erreicht: geschlechts- und religionsübergreifend, jeden Alters und gesellschaftlichen Hintergrunds. Es kamen sogar Besucher aus der damaligen DDR angereist, was für uns eine besondere Ehre darstellte, wussten wir doch, wie schwer es war, die innerdeutsche Grenze von Ost nach West zu überwinden. Einer von ihnen war der Indologe Roland Beer, der in Ost-Berlin - oder Berlin (Ost), wie es damals im offiziellen DDR-Jargon hiess - einen kleinen privaten Indien-Kulturklub betrieb. Roland war ein kleiner, leise sprechender Mensch, zu dem ich gleich, auch aufgrund unserer gemeinsamen Begeisterung für Indien, einen guten Draht hatte und mit dem ich mich anfreundete.

Informell hatten wir schon das Gandhi-Informations-Zentrum gegründet, das zunächst in privater Initiative betrieben wurde. Erst 1991 wurde daraus dann ein gemeinnütziger Verein. Für die erste Ausstellungspräsentation hatten wir einen kleinen Ausstellungskatalog in Eigenregie hergestellt. Als danach abzusehen war, dass weitere Ausstellungen folgen sollten, entstand eine sehr ausführliche, über 300-seitige Zusammenstellung, die unter dem Titel „my life is my message – das Leben und Wirken von M.K. Gandhi“ im Verlag Graswurzelrevolution veröffentlicht wurde. Das Buch enthielt eine Chronologie von Gandhis Leben, Fotos, Karikaturen, Zitate, Zeitungsartikel und Aussagen von Zeitzeugen. Es diente als Ausstellungskatalog, wurde aber auch gerne von Menschen gelesen, die sich für Gandhi interessierten oder über ihn arbeiteten. Eine Aufgabe des Gandhi-Informations-Zentrum war, in der Vor-Internet-Zeit, die Vernetzung von Wissenschaftlern und Studenten, die über Gandhi arbeiteten, Aktivisten und anderen Interessierten. Obwohl wir nur eine kleine Gruppe mit beschränkten Mitteln waren, haben wir uns schnell auf dem Gebiet der Vernetzung einen Namen gemacht und unsere Informationen und Materialien wurden von weltweit angefragt.

Wir waren im Kontakt mit Menschen und Institutionen aus der ganzen Welt, die über Gandhi arbeiteten, sich auf ihn beriefen oder sich für ihn interessierten. Unser Kontakt zu Roland Beer half uns auch in der damaligen DDR weitere Gandhi-Anhänger kennenzulernen. Eine beeindruckende Persönlichkeit mit einer sehr aussergewöhnlichen Lebensgeschichte war Herbert Fischer, der ehemalige Botschafter der DDR in Indien. Fischer sympathisierte in seiner Jugend mit der Reformbewegung, die ein gesundes, liberales Leben in Harmonie mit der Natur pflegten und propagierten. Er war einerseits angewidert vom aufziehenden deutschen Nationalsozialismus und andererseits angezogen von den Lehren Gandhis, von denen er aus der deutschen Presse und Literatur erfuhr. Die Zeitungen berichteten Anfang des 20. Jahrhunderts eher kritisch und abfällig über den „halbnackten Fakir“, wie Gandhi von Winston Churchill bezeichnet wurde, was sich aber im Laufe der Zeit und mit dem Aufkommen der Nationalsozialisten änderte, da Gandhi und Hitler mit England ja den gleichen Gegner bekämpften, wenn auch mit unterschiedlichen Mitteln. Herbert Fischer war Anfang der 1930er Jahre von dem Gedanken beseelt Mahatma Gandhi in Indien zu treffen. Auf eine schriftliche Anfrage erhielt Fischer von Gandhis Sekretär eine positive Antwort und so machte er sich 19-jährig 1933 auf den Weg nach Indien. Die Reise, die er fast ohne finanzielle Mittel unternahm, dauerte drei Jahre und führte ihn zunächst nach Frankreich und Spanien, wo er jobbte und auch ein Fahrrad geschenkt bekam. Damit radelte er in die Türkei, wo man ihm ein Schiffsticket schenkte nach Indien. Dort angekommen begab er sich sogleich per Bahn nach Faizpur, wo gerade der Indische Nationalkongress tagte. Aufgrund seiner stattlichen Körpergrösse erkannte Gandhi ihn schon von weitem und begrüsste ihn mit den Worten: „So, you have come. You can look after the book stall during the Congress.” In den kommenden Jahren lebte Herbert Fischer in Maganwadi, Wardha, und somit ganz in der Nähe von Gandhis Sevagram-Ashram. Er traf Gandhi jeden Sonntag, der sich für Fischer eine Stunde Zeit nahm, um mehr über das Leben in Deutschland zu erfahren. Da Fischer aber auch viele Fragen an Gandhi hatte, begann jede dieser Sitzungen mit der Aufforderung „Shoot“ von Gandhi. Beide pflegten ein sehr herzliches Verhältnis zueinander, was von einigen Ashram-Mitgliedern mit Neid registriert wurde. Nahezu alle waren bemüht Gandhi nahe zu sein und seine Aufmerksamkeit zu erhalten, da sein Rat und seine Fürsorglichkeit sehr geschätzt wurde. Eine besonders enge emotionale Beziehung zu Gandhi pflegte dessen englische Mitarbeiterin Mirabehn, deren Fokussierung auf Gandhi sich sehr gut in einer Anekdote widerspiegelt, die mir Herbert Fischer erzählte: Als Gandhis sonntäglicher Ehrengast war es ihm gestattet beim Mittagessen neben Gandhi zu sitzen. Alle Ashram-Mitglieder und Gäste saßen in einer Reihe auf dem Boden und mehrere Ashramiten, die an dem Tag Küchendienst hatten, servierten das Essen auf die Teller. Als Mirabehn Gandhi das Essen servierte, drehte sie ihr Hinterteil geradewegs Herbert Fischer ins Gesicht, was ziemlich symptomatisch war und die Ablehnung ihrer „Rivalen um die Gunst Gandhis“ zum Ausdruck brachte.

Ich hatte bis zu Fischers Tod im Jahr 2006 zahlreiche Begegnungen mit ihm und konnte dabei sehr viel über die Person Gandhi und die Atmosphäre, die damals in Indien herrschte, erfahren. Sehr zu empfehlen ist Herbert Fischers Buch „Unterwegs zu Gandhi“, in dem er seine persönlichen Erlebnisse mit Gandhi sehr anschaulich schildert.

Die Öffentlichkeits- und Archivarbeit machte mir Spass und so war ich der erste im Öffentlichen Dienst in Berlin, der Jobsharing betrieb und seine Vollzeitstelle teilte. Da mein dienstvorgesetzter Professor im Institut für Theoretische Chemie viel Sympathie für meine ausserdienstlichen Aktivitäten hatte, gestattete er mir vierteljährlich blockweise zu arbeiten, d.h. drei Monate Vollzeitarbeit und dann drei Monate frei. Wenn ich das letzte Quartal im Jahr mit einem freien Block beendete und das erste Quartal im neuen Jahr mit einem freien Block begann, hatte ich ein halbes Jahr frei, in welchem ich dann noch tiefer in das Leben in Indien eintauchen konnte. Der ersten Ausstellung in Berlin folgten weitere, insgesamt über 70, und ich war stets auf der Suche nach besserem Bildmaterial über Gandhi.

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1985

Meine zweite Indienreise führte mich zunächst von Bombay nach Süd-Indien, wo ich gemeinsam mit dem Mitbegründer des Gandhi-Informations-Zentrum, Christian Bartolf, gandhische Projekte besuchte. Auf der Rückreise in den Norden machten wir Station in Wardha, wo sich Gandhis Satyagraha-Ashram fand und auch Vinobas Frauenashram Brahma Vidya Mandir. Während Gandhis Ashram sich heute als Museum präsentiert, ist der im 7 km entfernten Paunar gelegene Ashram von Vinoba Bhave ein aktiver lebendiger Ashram. Brahma Vidya Mandir wurde in den 1960er Jahren von Vinoba zu einem Frauenashram umgewidmet, in dem Entscheidungen im Konsenzprinzip gefällt werden. Tatsächlich ist diese Einrichtung ein ‚Laboratorium für eine ideale Gesellschaft‘, so wie sie sich selbst bezeichnet und für Interessierte einen Besuch wert. Die etwa 30 Frauen leben weitestgehend selbstversorgerisch und widmen sich dem spirituellen Wachstum. Sie haben dafür ihre Familien, ihre Karieren und ihren Besitz hinter sich gelassen. Ich habe den Ashram auch später noch oft besucht und die Auseinandersetzung mit den Bewohnerinnen sehr geschätzt, da ihre Lebenserfahrung und ihr Wissen mich bereichert haben. Es lebten aber auch Männer in dem Ashram wie der Sekretär von Vinoba oder Gautam Bajaj, ein Mitglied der Bajaj Familie, die Gandhi und Vinoba den Grund und Boden für ihre Gemeinschaften zur Verfügung gestellt hat.

Der Buchladen wurde von S.V. Govindan betreut, einem engen Mitarbeiter von Vinoba, mit dem ich schnell ins Gespräch kam. Ab Mitte der 1940er Jahre lebte Govindanji, wie ich ihn respekvollerweise nennen durfte, zunächst in Gandhis Sevagram-Ashram und begleitete dann Vinoba auf seinen Fussmärschen der Land- und Dorfschenkungsbewegung quer durch Indien, bevor er sich mit Vinoba und den anderen Mitarbeitern Vinobas 1959 im Brahma Vidya Mandir, dem Bildungstempel Gottes, niederliess. Neben den persönlichen Erfahrungen, die er mit Gandhi und Vinoba hatte, verblüfften mich seine Yoga-Fähigkeiten und Kenntnisse der indischen Schriften. Die Veden, insbesondere das Ayurveda, konnte er gut vermitteln und von seiner Massagekunst war auch Vinoba beeindruckt. Govindanji sprach gut Englisch und hatte Fähigkeiten und ein Wissen, von dem ich überzeugt war, dass das auch im Westen auf Interesse stossen würde. Bis dahin hatte Govindanji Indien noch nicht verlassen, jedoch zeigte er mir eine Einladung zu einer internationalen Yoga-Konferenz in Italien, an der er demnächst teilnehmen wird. Ich habe dann nicht lange überlegt und ihn im Anschluss an die Yoga-Konferenz nach Berlin eingeladen. Wir hatten fünf fabelhafte Veranstaltungen mit ihm über Vinoba, Gandhi, Ayurveda, seinen Ashram und Yoga. Da es auch ihm Spass bereitete sein Wissen zu vermitteln, hatten wir ihn in den folgenden Jahren mehrfach zu Gast.

Sein Lehrer Vinoba galt als Universalgenie: er sprach zahlreiche Sprachen und kannte sich in allen Wissenschaften aus. Seine Bücher wurden Bestseller in Indien und auch darüber hinaus. Als Vinoba am 8. November 1982 einen Herzinfarkt erlitt, erkannte er den herannahenden Tod und verweigerte jede Medikation und weitere Nahrungsaufnahme. Eine Woche später verstarb er. Vinoba hätte gesagt: seine Seele hat sich von seinem alternden Körper befreit.

Shivaji Bhave ist nach Vinobas Tod in den Ashram gezogen und hat in gewisser Weise seine Nachfolge angetreten, mehr jedoch als Senior wie als spiritueller Führer.

Shivaji empfahl uns nach Rajkot zu fahren, wo mehrere Verwandte und Mitarbeiter Gandhis lebten, u.a. sein Freund Prabhudas Gandhi und auch Gandhis ‚Hoffotograf‘ Kanu Gandhi. Beide lebten in der von Gandhi gegründeten „Schule der Nation“ – Rashtriyashala. So fuhren wir Richtung Westen in den Bundesstaat Gujarat, wo Gandhi auch geboren wurde und aufwuchs. Zunächst trafen wir Prabhudas Gandhi. Seine Eltern waren Chhaganlal und Kashiba Gandhi, die in Süd-Afrika zu den Mitbegründern des ‚passiven Widerstandes‘ gehörten, aus dem später der ‚aktive gewaltfreie Widerstand‘ wurde. Chhaganlal war ein Grosscousin Gandhis und wurde später der erste Manager von Gandhis Satyagraha-Ashram nahe Ahmedabad. Sein Sohn Prabhudas wurde 1901 geboren und wuchs mit den Söhnen Gandhis in der von ihm gegründeten Phoenix-Siedlung auf. Prabhudas sollte zeitlebens eng mit Gandhi zusammenarbeiten. Von ihm behauptet die Gandhi-Familie, dass er Gandhi am besten verstand und dessen Werte weitestgehend in seinem eigenen Leben umgesetzt hat. In der Tat hatte Prabhudas grosse Ähnlichkeit mit Gandhi. Das japanische Fernsehen benutzte sogar seinen Schatten, um in einem Dokumentarfilm Gandhi zu präsentieren. Prabhudas, damals 85 jahre jung, sprach hervorragend Englisch, obwohl er nie eine formale Schule besuchte. Seine Lehrer waren in Süd-Afrika Gandhi und später in Indien Mirabehn, Vinoba und Kaka Kalelkar, ein weiterer gelehrter Mitarbeiter Gandhis. Für uns erschien Prabhudas einerseits wie ein Lexikon über Gandhis Ideen, Leben und Taten, zum anderen war er aber auch ein gutes lebendes Beispiel für die Werte, für die sich Gandhi einsetzte: Mitmenschlichkeit, Barmherzigkeit, Demut, Hilfsbereitschaft und ein einfaches, auf Gott ausgerichtetes Leben. Gandhis Ziel war es zeitlebens, Gott von Angesicht zu Angesicht zu sehen und ein Herrschaftsgebiet Gottes auf Erden zu schaffen (‚Ramraj‘). Wir genossen die Begegnung mit Prabhuads Gandhi und ich wusste, dass wir uns wiedersehen würden. Dann gingen wir zu seinem Nachbarn Kanu Gandhi. Kanu Gandhi war Ende 60 und sehr fit. Er war ein Grossneffe Gandhis, der mit ihm seit 1936 im Sevagram-Ashram in Zentralindien zusammenlebte und dessen ‚Hoffotograf‘ er war. Ihm war es als einzigen erlaubt war, Fotos von Gandhi in jeder Situation zu machen, unter drei Bedingungen: 1) es durfte kein Blitz benutzt werden, 2) Gandhi würde nicht in Pose gehen und 3) Gandhi würde das Hobby von seinem Grossneffen nicht finanzieren. So war Kanu von Anfang an gezwungen seine Fotos vom Mahatma an Zeitungen zu verkaufen. Er machte sich damit auch einen Namen und ein paar seiner Fotos wurden auch ausserhalb Indiens bekannt. Die Kamera erhielt der junge Kanu vom Industriellen, G.D. Birla, geschenkt und Gandhi liess auf dem Ashramgelände eine Dunkelkammer für Kanu bauen. So entstanden über 1300, zum Teil sehr persönliche, Fotos von Gandhi. Kanu war verheiratet mit Abha, einer der beiden ‚living walking sticks‘, wie Gandhi sie nannte, in deren Armen Gandhi starb und die ebenso wie Kanu zum engsten Mitarbeiterkreis des Mahatma gehörte. Es war ein erhabener Moment als Kanu mir seine Fotos stolz zeigte. Alle 5 x 5 cm Kontaktabzüge waren in Alben eingeklebt und zu jedem Bild konnten Kanu und Abha eine Geschichte erzählen. Ich hatte den Eindruck, dass ich gemeinsam mit ihnen die Zeit mit Gandhi und seiner Umgebung erleben würde! Ihre Augen glänzten, in Erinnerung an, was sie selbst als ‚die beste Zeit ihres Lebens‘ bezeichneten. Das Verhältnis der drei hat Gandhi einmal so ausgedrückt: „Wir sind drei Körper aber eine Seele.“ Kanu und Abha sind als Jugendliche in Gandhis Sevagram-Ashram gekommen und Gandhi hat die Ehe der beiden arrangiert. Auf Gandhis zahlreichen Reisen haben sie sich um sein Gepäck gekümmert sowie auch um Gandhis Ehefrau Kasturba. Sie agierten als sein Sekretär und engste Mitarbeiter. Nach Gandhis Tod gingen sie in Kanus Heimatstadt Rajkot und gründeten in der Nähe den Kasturba-Ashram, in dem Gandhis Experiment von Selbstversorgung, informeller Bildung und Erziehung sowie die Entwicklung und Einsatz von umweltfreundlichen Technologien fortführten. Wir vereinbarten, uns im kommenden Jahr wieder zu treffen und den Austausch fortzuführen. Leider sollte das Schicksal uns einen Strich durch die Rechnung machen. Aber dazu später mehr.

Von Rajkot aus fuhr ich mit dem Zug nach Delhi, um von dort mit dem Bus nach Kathmandu in Nepal zu fahren. Ich hatte in Kathmandu eine Verabredung mit einem österreichischen Filmteam, um als ‚gandhischer Berater‘ an einer TV-Produktion teilzunehmen über Mirabehn (eine englische Mitarbeiterin Gandhis), die Chipko-Bewegung („Umarmt die Bäume“) und Ökologie im Himalaya. *1 Diese Busfahrt sollte aber ein unerwartetes grosses Abenteuer werden. Es begann damit, das der Überlandbus, der schon bessere Tage gesehen hatte, auf dem Busbahnhof von Alt-Delhi völlig überladen wurde von Nepalis, die in Indien arbeiteten und in die Heimat fuhren. Hühnern, Möbelstücken, Kisten mit Bekleidung und Lebensmitteln wurden auf dem Dach und im Innenraum verstaut, wobei jeder freie Quadratzentimeter genutzt wurde. Mit einstündiger Verspätung fuhr der Bus dann am späten Nachmittag um 17 Uhr los. Da es an diesem Tag Bombenanschläge in Delhi gab, wurden die Ausfahrtstrassen streng kontrolliert. Alle paar Kilometer passierten wir anfangs eine Sperre und der Bus, inklusive seiner Passagiere und deren Gepäck, wurde von Uniformierten inspiziert. Das dauerte von Sperre zu Sperre unterschiedlich lange und ich hatte den Eindruck, dass die beiden Busfahrer – interessanterweise - einen gewissen Einfluss darauf ausüben konnten. Persönlich hatte ich zur Korruption in Indien keine Berührung, ich wusste nur, dass es sie gibt und hatte den Eindruck, dass sie hier zur Anwendung kam. Als wir den Grossraum Delhi und zahlreiche Kontrollen hinter uns gelassen hatten, stoppte der Bus nochmals abrupt, wobei einige schlecht befestigte Kochgeschirre und Mobiliarteile sich selbständig machten und durch die Gegend fielen: der in die Jahre gekommene Bus hatte eine Reifenpanne. Mittlerweile war es dunkel und wir befanden uns ‚in the middle of nowhere‘. Die Fahrer haben dann aber mit eher unzureichendem Werkzeug und dafür mehr Geschick und Erfahrung die Panne bald behoben und die Reise konnte weitergehen. Da durch die Kontrollen und Panne viel Zeit verloren wurde, entschlossen sich die Fahrer eine Abkürzung zu nehmen und üner einen kleineren Grenzübergang nach Nepal einzureisen. Als wir an diesem Übergang ankamen, wurde uns allerdings mitgeteilt, dass die Kontrolle des Busses nur bei Tageslicht durchgeführt werden kann und wir bis zum nächsten Morgen warten müssten. Was wir dann, wohl oder übel, auch taten. Natürlich gab es kein Gästehaus oder Hotel in der Nähe, wo man ein bequemes Bett hätte bekommen können und so waren wir, auch wegen der kühlen Temperaturen, auf den Bus angewiesen als Übernachtungsstätte. Alle Plätze des Busses waren besetzt und die Gänge und Gepäckfächer mit Waren überladen. So hatten wir keine Möglichkeit eine bequeme Schlafposition einzunehmen, sondern ‚schliefen‘ in der gleichen Position, die wir auch schon vor etlichen Stunden in Delhi eingenommen hatten. Bei Tagesanbruch wurde der Bus dann sehr ausführlich untersucht und wir konnten am 12. Mai unsere Reise fortsetzen. An den Tag erinnere ich mich noch genau, denn es war mein 28. Geburtstag und das Abenteuer sollte noch nicht vorbei sein … Es ging quer durch Nepal mit vielen Serpentinen, Schluchten und – milde ausgedrückt – unzureichenden Strassenverhältnissen. Letztere wurden uns dann auch fast zum Verhängnis. Eine Brücke, die einen Fluss überquerte, was kaputt und die Fahrer entschlossen sich, den Fluss mit dem Bus zu durchqueren, was die einzige Möglichkeit darstellte die Reise fortzusetzen. Der Fluss führte nicht viel Wasser und alle hofften, dass er hochliegende Bus mit den grossen Reifen da gut durchkommen würde – tat er aber nicht. Mitten im Fluss blieb der Bus stecken und rührte sich keinen Zentimeter. Die Fahrer gaben alles. Sie versuchten den Bus vorwärts und rückwärts zu bewegen aber der schien sich immer tiefer im Flussschlamm zu vergraben. Auch Aussteigen und zum Ufer laufen war aufgrund des Wasserpegels nicht möglich und schon gar nicht mit Gepäck. So harrten wir der Dinge. Zu dieser gab es weder Mobiltelefone, Internet oder GPS. Die hauptsächlich nepalesischen Passagiere brachen nicht in Panik aus, sondern nahmen die Situation gelassen an. Vielleicht haben sie sie ja auch nicht, so wie ich, zum ersten Mal erlebt. Obwohl ich nun nicht mehr meine Verabredung mit dem TV-Team in Kathmandu einhalten konnte, lehnte auch ich mich entspannt zurück und betrachtete diese eigentümliche Situation mit fröhlichem Interesse, schliesslich handelte es sich ja um meinen Geburtstag! Nach einiger Zeit kam aus heiterem Himmel ein Traktor vorbei, der sich bereiterklärte, zu versuchen, den Bus aus dem Fluss zu ziehen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen klappte das tatsächlich und wir konnten unsere Reise – wiedermal – fortsetzen. Mit einer gehörigen Verspätung erreichten wir Kathmandu und ich konnte zu dem TV-Team dazu stossen. Wir haben meinen Geburtstag nachgefeiert und herzlich gelacht, als ich ihnen meine abenteuerliche Anfahrt erzählt hatte. Die kommenden zwei Wochen waren spannend für mich, denn es war die erste längere TV-Produktion, an der ich mitwirkte. Den roten Faden durch die Sendung spann der österreichische Geologe und Journalist Herbert Tichy, der als erster Mitte der 1930er Jahre mit einem Motorrad von Europa nach Indien fuhr (als Beifahrer) und dann viele Jahre in Indien lebte. Er wusste wie die von uns besuchten Regionen im Himalaya vor 50 Jahren aussahen und konnte die mittlerweile sehr fortgeschrittene Umweltzerstörung aus erster Hand beschreiben. An vielen Stellen war nur noch der nackte Fels zu sehen, wo damals ein dichter Wald existierte. Mit zunehmender illegaler Abholzung wurde in der darauffolgenden Regenzeit die den Fels bedeckende Muttererde weggespült, was im Tal zu Lawinen und Überschwemmungen führt, die wiederum angrenzende Landwirtschaft und Bewaldung zerstört. Aufforstung in dieser Region dann nicht mehr möglich und der Lebensraum für die eh schon in einfachen Verhältnissen lebenden Bergbevölkerung unwiederbringlich zerstört.

Mirabehn wurde als Madeleine Slade 1892 in England geboren. Sie war die Tochter eines britischen Admirals und verschrieb sich schon früh der Musik von Beethoven. Sie organisierte Konzerte und las mit Begeisterung die Beethoven-Biografie von dem französischen Schriftsteller Romain Rolland, den sie Anfang der 1920er Jahre in der Schweiz besuchte. Eher beiläufig erwähnte Rolland eine neue Biografie, die er gerade fertiggestellt hatte von Gandhi und gab sie der jungen Madeleine zum Lesen mit. Diese literarische Begegnung mit Gandhi wurde zum Wendepunkt in ihrem Leben: sie wollte zu Gandhi! Madeleine schrieb ihm und er lud sie in seinen Satyagraha-Ashram nahe Ahmedabad ein unter der Voraussetzung, dass sie sich vorher mit den indischen Gepflogenheiten vertraut macht: auf dem Boden schlafen, im Schneidersitz auf dem Boden sitzend mit den Fingern essen usw. Ende 1925 erreichte Madeleine Indien und erhielt von Gandhi den spirituellen Namen Mirabehn („Schwester Mira“). Auch Mirabehn gehörte zum engeren Mitarbeiterkreis von Gandhi und lebte weitestgehend mit ihm in seinen Ashrams. Nach Gandhis Tod widmete sie sich dem Umweltschutz und insbesondere dem Erhalt der Bäume im Himalaya. Obwohl Mirabehn aktiv in der indischen Unabhängigkeitsbewegung wurde sie als Ausländerin nicht als offiziell als ‚Unabhängigkeitskämpferin‘ anerkannt und erhielt nicht die von ihr geforderte staatliche Pension. Aus Protest verliess Mirabehn 1959 Indien, zunächst Richtung England. Ein Jahr später lies sie sich dann in der Nähe von Beethovens Grab im österreichischen Wienerwald nieder, wo sie 1982 starb. Auch die Chipko-Bewegung widmet sich dem Schutz der Bäume. Einer ihrer Protagonisten ist der Journalist Sunderlal Bahuguna, mit dem Mirabehn befreundet war. Das TV-Team brachte die Asche Mirabehns aus Österreich mit und in einer würdevollen Zeremonie wurde diese von dem spirituellen Lehrer Bahugunas, Swami Chidananda Saraswati von der hinduistischen Divine Life Society, nahe Rishikesh dem Ganges übergeben. Auch Herbert Tichy wohnte der Zeremonie bei, der ebenfalls sehr eng mit Mirabehn befreundet war.

Im Anschluss an die TV-Aufnahmen besuchte ich Sunderlal Bahuguna und begleitete  ihn auf einer Wanderung durch die Dörfer in den unteren Bereichen des Himalayas. Ziel war es mit der Dorfbevölkerung über eine umweltfreundliche Lebensweise und den Schutz der Bäume ins Gespräch zu kommen. Unsere Gruppe bestand aus etwa 10 Teilnehmern. In guter indische Pilgertradition hatten wir weder Geld noch Essen dabei. Bei Erreichen eines Dorfes klopften wir zunächst an die Haustüren und baten um „Do roti do“ – zwei Fladenbrote bitte. Die Bitte wurde uns nur selten verwehrt und so kamen wir auch gut mit der Bergbevölkerung in Kontakt. Allerdings hatten die meisten Menschen Probleme mit dem Gedanken ihre traditionelle und nicht immer umweltfreundliche Lebensweise umzustellen. Zum Beispiel unterstützte die indische Regierung die Einführung von Kochstellen, bei denen der entstehende Rauch nach aussen geleitet wird. Das wurde nur von wenigen gut geheissen, denn nach Ansicht der Bergbevölkerung hilft der entstehende Rauch gegen die Insekten. Das kann man sicherlich nicht leugnen aber auch nicht die Tatsache, dass viele Menschen Lungenkrankheiten davontragen und daran früh sterben. Sunderlal Bahuguna hat uns später auch mehrfach im Gandhi-Informations-Zentrum in Berlin besucht und Vorträge gehalten über die Chipko-Bewegung und Ökologie im Himalaya.

Eine weitere interessante Begegnung hatte ich kurz vor meiner Rückreise in Neu-Delhi, wo ich stets das National Gandhi Museum in Rajghat besuchte. Im Museumseingang befand sich eine Büchertheke, wo die aktuelle Gandhi-Literatur zum Verkauf angeboten wurde. Bei meinem Eintreffen sah ich dort eine westliche Frau, die etwas unschlüssig in den Büchern blätterte. Ich wollte sie an meiner eigenen Begeisterung für Gandhi teilhaben lassen und fragte sie, ob sie schon die Autobiografie von Gandhi gelesen hätte. Sie sagte nur „Ja“ und ich ging weiter in die gutbestückte Bibliothek. Dort begrüsste mich der Leiter der Bibliothek mit den Worten, dass ich gerade die Übersetzerin der deutschsprachigen Ausgabe von Gandhis Autobiografie, Dr. Bianca Schorr, verpasst hätte. Er beschrieb sie mir und tatsächlich war es die Frau, der ich gerade die Literatur der Autobiografie empfohlen hatte! Auf dem Absatz machte ich kehrt und holte sie tatsächlich auf der Strasse ein. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag in ihrem Hotel und erfuhren dort dann ein wenig mehr voneinander. Mir wurde allerdings erst später bewusst, dass alle Wissenschaftler der DDR, wenn sie das Privileg geniessen und auf Auslandsreise gehen wollten, in der einen oder anderen Form Kontakt zur Staatssicherheit hatten. Anderen Deutschen gegenüber und selbst Mitarbeitern und Verwandten wurde häufig mit Misstrauen begegnet. Das erklärte auch das etwas reservierte und förmliche Verhalten von Frau Dr. Schorr, denn bei unserem Treffen war auch ihre Kollegin anwesend. Bei späteren Treffen in Berlin, vor allem nach der Wiedervereinigung, lernte ich dann eine wesentlich fröhlichere und lebenslustigere Bianca Schorr kennen. 

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 *1 Titel der Produktion „Bäume umarmen – Mirabehn und die Waldzerstörung im Himalaya“ - https://www.youtube.com/watch?v=9ksuQ_KeMBU

1986

Bislang war ich durch Indien mit öffentlichen Verkehrsmitteln gereist und nun wollte ich das Land mit dem Rad kennenlernen. Gemeinsam mit meiner Freundin Jutta machte ich mich von Ahmedabad aus auf den Weg nach Rajkot in Gujarat; aber nicht auf der stark befahrenen Hauptstrasse sondern auf kleinen Nebenstrassen, wo wir durch verschlafene Dörfer kamen und ein noch sehr traditionelles Indien vorfanden. Wir wurden von der Bevölkerung mit den typischen „Ram, Ram“ begrüsst und überall begegnete man uns freundlich und wohlwollend, wenn auch mit etwas Unverständniss, warum wir reichen Westler mit einem Rad schwitzend durch Indien fuhren und nicht in einer klimatisierten Limousine. Unser Interesse an indischen Dörfern und vor allem an Gandhis Ideen fanden in dessen Heimatstaat sehr viel Anklang, wenn sich auch etliche wunderten, dass Gandhi überhaupt ausserhalb Indiens bekannt ist. Unsere stabilen Hero-Räder, von uns ‚Hero-Mercedes‘ genannt, trugen uns zuverlässig von Dorf zu Dorf und schon hatten wir nach einer Woche Rajkot erreicht, wo ich mich sehr auf das Wiedersehen mit Kanu und Prabhudas Gandhi und ihren Familien freute. Die Freude wurde allerdings getrübt, da Kanu Gandhi eine Woche zuvor einem Herzschlag erlegen war. Jutta reiste nach Deutschland zurück und ich nahm an den insgesamt 12 Tage dauernden Trauerversammlungen im Haus von Abha und Kanu Gandhi teil. Im Gegensatz zur westlichen Welt, bzw. zu dem, was ich davon kannte, war die Trauer nach 12 Tagen vorbei und man ging zur Tagesordnung über. Abha Gandhi erzählte mit weitere Geschichten aus ihrem interessanten Leben. Viele davon sind in dem Buch „Our Days With Bapu“ veröffentlicht. Wie schon damals im Sevagram-Ashram, hatte Kanu auch in Rajkot ein Fotolabor, da er auch nach Gandhis Tod als kommerzieller Fotograf tätig war und die Bevölkerung ablichtete. Abhabehn hatte zu Lebzeiten ihres Mannes dessen Fotolabor nur selten betreten und so war es ein besonderer Moment, als ich gemeinsam mit ihr das nahegelegene Labor betreten durfte. Abhabehn (Schwester Abha), wie sie gemeinhin genannt wurde, schloss die Tür auf und in einem 30 qm grossen Raum befanden sich tausende Fotos: auf dem Fussboden, in Regalen und in Schränken. Da Kanu, nach wie vor, die Welt mit Fotos von Gandhi belieferte, waren es hauptsächlich Bilder des Mahatma, die wir zu Gesicht bekamen. Da ich ja schon seit ein paar Jahren nach gutem Bildmaterial von Gandhi gesucht hatte, sind mir natürlich die Augen übergegangen, angesichts der Vielfalt und Qualität der Fotos. Als ich Abhabehn nach einer Weile fragte, was sie mit den Fotos machen wolle, sagte sie, das sie von jedem Bild in ihrer Wohnung einen Abzug im Album habe, was ihr genüge. Den Rest, also die tausenden Abzüge, in deren Mitte wir uns gerade befanden, würde sie wegwerfen, da sie schon bald die zum Labor umgebaute Wohnung vermieten müsste, um Einnahmen zu haben. Ich musste nicht lange überlegen, um ihr ein Angebot zu machen und einen Grossteil der Bilder ihr abzukaufen. In den folgenden Wochen haben wir täglich beisammen gesessen und die Bildunterschriften ausgearbeitet, soweit sie sich noch daran erinnern konnte. Ihrer Ansicht nach hatte ihr Mann keine Aufzeichnungen zu den Bildern hinterlassen. Sie gab sich viel Mühe, sich an die jeweilige Situation zu erinnern, wo und wann das Bild aufgenommen wurde und wer darauf zu erkennen war, allerdings hatten die Jahrzehnte schon etwas ihre Erinnerung getrübt. Ich war jedenfalls selig, dass ich die – wichtigen – Aufnahmen von Gandhis ‚Hoffotografen‘ sichern und für unsere Öffentlichkeitsarbeit in Deutschland nutzen konnte. Seit diesem Aufenthalt in Rajkot habe ich regelmässig bei der Familie von Prabhudas Gandhi, in direkter Nachbarschaft von Abha Gandhi, gewohnt. Vier Generationen lebten hier auf engstem Raum unter einem Dach – und nun auch noch ich. Ich habe mich mit allen gut verstanden und sehr viel über Gujarat, Indien und Gandhi gelernt. Vor allem habe ich zu Prabhudas, trotz des Altersunterschieds von 55 Jahren, ein sehr inniges und freundschaftliches Verhältnis aufgebaut. Er wurde mein Mentor, dessen Rat ich in jeder Lebenssituation gesucht und respektiert habe. Als anerkannter Kämpfer der indischen Unabhängigkeit besass Prabhudas einen Pass, der es ihm erlaubte, mit dem Zug erster Klasse durch’s Land zu reisen. Obwohl er ein enger Schüler Gandhis war – oder vielleicht gerade deshalb – hatte er immer zahlreiche Gepäckstücke dabei, wie sein mobiles Spinnrad, sein Bettzeug und seine Schreibutensilien. In seiner Familie galt Prabhudasbhai als komplizierter Reisepartner und niemand wollte ihn begleiten auf seinen Reisen, wo er gerne alte Weggefährte und interessante Projekte besuchte. Für mich gab es keine grössere Freude, als mit meinem Freund und Lehrer im Zug das Land zu bereisen und von ihm viel zu lernen. Seine Mitmenschlichkeit, sein gesunder Menschenverstand und seine Lebenserfahrung haben mich in seiner Gegenwart so wohl fühlen lassen, wie nie zuvor. Es gab zwischen uns eine Seelenverwandschaft, die uns über das gemeinsam Erlebte heiter und positiv auf die Welt blicken liessen. Wir haben gemeinsam viele interessante Orte und Projekte im ganzen Land besucht aber am meisten haben wir die Zeit miteinander genossen. Ich habe mich für sein Leben, seine Ansichten und seine Zeit mit Gandhi interessiert und er hat sich über mein Interesse und wachsendes Verständnis für die damalige Zeit und den Kontext, in dem alles stattfand, gefreut. Vor allem konnte er sich noch gut an die Zeit in Süd-Afrika erinnern, wo Gandhi mit seinen Experimenten bei seinen Mitstreitern nicht immer auf Verständnis traf. Prabhudasbhai hatte jedoch schon als Kind ein Grundvertrauen in Gandhi und war oft der einzige der bereit war, sich für dessen Experimente zur Verfügung zu stellen. Das betraf Bereiche der Ernährung, Kleidung und Naturheilkunde, in der es Gandhi zu grossem Wissen und Erfahrung brachte. Naturopathy, die Anwendung von ausschliesslich natürlichen Elementen zur Heilung und Gesunderhaltung, waren Gandhis Spezialgebiet. Sein „Wegweiser zur Gesundheit“ sollte später zu einem Bestseller werden und wurde sogar in den 1980er Jahren noch von der italienischen Regierung in hoher Auflage gedruckt und kostenlos verteilt. In der Phoenix-Siedlung nahe Durban hat Gandhi auch seine eigenen und die Kinder der Mitbewohner unterrichtet und so ist Prabhudasbhai als Gandhis ‚fünfter Sohn‘ erzogen und ausgebildet worden. Prabhudasbhai erzählte mir auch, das die Phoenix-Siedlung sich in direkter Nachbarschaft von John Dube befand, der sich die Sache der Schwarzen angeeignet hatte, während sich Gandhi ausschliesslich auf die Rechte der Inder in Süd-Afrika konzentrierte. Beide haben regelmässig ihre Erfahrungen ausgetauscht und so war Gandhi, was die Situation der Schwarzen betraf, immer auf dem Laufenden, auch wenn ihn die Sache der Inder voll ausfüllte. Schliesslich war er nicht als Bürgerrechtler nach Süd-Afrika gekommen, sondern als junger, schüchterner und unerfahrener Rechtsanwalt, dem ersten in der indischen Gemeinde, der langsam in seine Rolle als Vertreter der Rechte der Inder in Süd-Afrika hineingewachsen ist.

Von den zahlreichen Reisen, die ich im Laufe der Jahre mit Prabhudasbhai unternommen habe, sind mir zwei besonders in Erinnerung geblieben: Mitte der 1980er Jahre befand sich Gujarat in einer Dürreperiode, die viele Bauern in den Selbstmord trieben. Es ging der gesamten Landbevölkerung schlecht aber insbesondere den in den Barda-Bergen nahe Porbandar lebenden Menschen. Prabhudasbhai und ich fuhren dorthin und zu erfahren, was die Menschen am meisten benötigten. In dem unwegigen Gelände gab es keine Wege und Strassen, sondern wir mussten uns per Kamel fortbewegen. Uns wurde ein Kamel zur Verfügung gestellt, auf dem wir beide die sehr zerstreut liegenden Häuser der Dorfbevölkerung aufsuchten. Prabhudasbhai unterhielt sich mit den Menschen und ich hatte auch Gelegenheit mehr über sie zu erfahren. Die ziemlich abgelegen lebende Stammesbevölkerung zeigte erstaunlicherweise Interesse am Spinnen, was sie vorher nicht kannten. Und das, obwohl Gandhi nur ein paar Kilometer weiter, in Porbandar, das Licht der Welt erblickte und Spinnen für ihn eine Mission war! Nach unserer Rückkehr nach Rajkot wurden dann Geld gesammelt und Lebensmittel, Getreide, Spinnräder und Baumwolle in die Barda-Berge geliefert. Auf einer weiteren mehrtägigen Bahnreise fuhren wir von Rajkot nach Delhi. Als wir kurz vor Agra waren, teilte mir Prabhudasbhai mit, das er das letzte Mal das Taj Mahal vor 60 Jahren gesehen hat. In Windeseile haben wir unsere Sachen zusammengepackt und sind in Agra ausgestiegen. Das Gepäck haben wir in dem Gästehaus des Bahnhofs deponiert und sind per Riksha zum Taj Mahal gefahren. Bislang hatte ich das berühmte Bauwerk, das weltweit zunächst mit Indien assoziiert wird – Gandhi kommt als zweites -, nur aus Diashows und Bildbänden gekannt und dachte, dass ich es mir nicht unbedingt anschauen müsste. Aber die Gelegenheit, es gemeinsam mit meinem Mentor zu sehen, war eine besondere und so reihten wir uns erwartungsfroh in die Schlange ein, die vorwiegend aus indischen aber auch ausländischen Touristen bestand. Mit langsamen Schritten näherten wir uns dem imposanten Mausoleum, welches am Ufer des Jamuna-Flusses gelegen, der indische Grossmoghul Shah Jahan im 17. Jahrhundert als Grabstätte für seine Lieblingsfrau Mumtaz Mahal errichten liess. Da wurde mir die Schönheit dieses einmaligen Bauwerks erst bewusst! Die Symmetrien und Intarsienarbeiten, die Farben und der grosszügige Innenraum, in dem sich auch das Grab von Shah Jahan befindet, überwältigten uns und wir haben es nicht bereut, den Zug Hals über Kopf verlassen und die Nacht in dem einfachen Bahnhofs-Gästehaus verbracht zu haben. Am nächsten Tag wurde die Reise fortgesetzt aber das Taj Mahal blieb uns noch lange in guter Erinnerung!

Von Delhi aus ging’s weiter ins zentralindische Wardha, was zweifelsfrei als ‚gandhisches Zentrum‘ bezeichnet werden darf, da es in und um Wardha über 200 Projekte gibt, die auf Gandhi zurückzuführen sind. Es waren aber vor allem die persönlichen Begegnungen, die Prabhudasbhai wichtig waren: im Sevagram-Ashram trafen wir die Schwiegertochter Gandhis, Nirmala, die mit Gandhis Sohn Ramdas verheiratet und das Oberhaupt des Ashrams war. Im nahegelegenen Ashram von Vinoba Bhave trafen sich die beiden alten Freunde Shivaji und Prabhudasbhai wieder und gemeinsam fuhren wir in das Haus von Madalsabehn Bajaj, der Tochter des Schatzmeisters des Indischen Nationalkongress, Jamnalal Bajaj. Sie war inspiriert von Gandhi und Vinoba und brachte deren Konzepte auch in ihrem sozialen Engagement mit ein. Als Ehefrau des früheren Gouverneurs von Gujarat, Shriman Narayan, wurden ihre Ideen auch in die indische Bildungspolitik mit berücksichtigt. Eine Erziehung, die auf bleibenden Werten beruht und der Hand-, Herz- und Kopfausbildung dient, sollte vermittelt werden. Ihr Haus in Gopuri glich einem Museum und einem Tempel: sie hatte eine grosse Fotosammlung und eine riesige Bibliothek, die allerdings im angrenzenden Mahila-Ashram (Mädchenashram) untergebracht war, und zahlreiche Filme, die sie in einer tempelähnlichen Ecke auf der Terrasse lagerte. Für eine gewisse Weile schien täglich die Sonne direkt auf diesen Bereich und ich vermutete, dass die Celluloid-Filme darunter leiden würden. Ich riet Madalsabehn daher, die Filme rechtzeitig auf Video überspielen zu lassen, was sie nach mehrmaliger Erinnerung ein paar Jahre später auch tat. Das war gut so, denn sie tat die Filme immer wieder in ihren Terrassen-Tempel zurück und als ich mir nach etlichen Jahren die Filmrollen mal wieder anschauen wollte, befand sich in den Metallbüchsen nur noch eine klebrige Masse. Ich erhielt als Dank für den rechtzeitigen Hinweis eine Kopie der überspielten Filme und stellte immer wieder fest, dass den Eigentümern von Original-Briefen, -Dokumenten, Fotos oder Filmen die Materialien sehr lieb und wichtig sind, sie jedoch häufig nicht wissen, wie sie sie gut lagern können, um den Herausforderungen des aggressiven indischen Klimas Stand zu halten. Ich spürte, dass ich mit meinem technischen Wissen und Hang zum Archivieren eine Hilfestellung geben kann. Immer wieder wurden mir in den Gesprächen mit Augenzeugen, die ich auch gelegentlich aufzeichnete, Originalmaterialien gezeigt, die in einem mehr oder weniger guten Zustand waren. Ich hatte den Eindruck, dass die indischen Gandhi-Museen sich keine grosse Mühe machten, diese Materialien zu identifizieren, zu konservieren und dann für Wissenschaft und Publikationen zur Verfügung zu stellen. Ich hatte ein Schlüsselerlebnis in Rajkot, dass mich bewog, der Sicherung der Originalmaterialien von Gandhi eingehender nachzugehen: ich erfuhr von einem Fotostudio, dass ein Bild von Gandhi haben sollte und suchte es auf. Mittlerweile hatte der Sohn das Geschäft übernommen, welcher mir auf Anfrage mitteilte, dass sein Vater ein Foto von Gandhi gemacht hatte und er zuhause danach suchen würde. Ich solle in 3 Tagen wiederkommen, was ich natürlich auch tat. Als ich das Fotostudio betrat, sah mich der Inhaber, griff nach einem grossformatigen Glasnegativ und kam mir freudestrahlend entgegen. Als er mir das Negativ zeigen wollte, rutschte es aus seinen Fingern, fiel auf den Fliesenboden und zerbrach in tausend Stücke. Da es von diesem Motiv keine Abzüge gab, war selbiges nun ausgelöscht. Ich machte es mir fortan also zur Aufgabe, möglichst viele Originalmaterialien zu retten unter dem Motto „Search and Research“.

Seit meiner ersten Indienreise war ich sehr von den Arbeiten über Gandhi von Vithalbhai Jhaveri beeindruckt und wollte ihn nun gerne mal Treffen. Ich schrieb ihm von Deutschland aus, erhielt aber keine Antwort. Eine gemeinsame Freundin, die damalige Direktorin vom Mani Bhavan in Bombay, erklärte sich bereit ein Treffen zu organisieren, sagte mir aber auch, dass er schwer nierenkrank sei und eine wöchentliche Dialyse benötigt, die ihn sehr schwächt. Als ich in Bombay eintraf, erklärte sie mir traurig, dass Jhaveri vor einer Woche verstorben sei. Auch mich erfüllte diese Nachricht mit Trauer aber ich nahm mir vor, bei meinem nächsten Besuch in Indien der Familie einen Besuch abzustatten.

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1987/1988

Mein Fussballkarriere beim jüdischen Verein TuS Makkabi dauerte nur zwei Jahre aber mein Interesse an Israel und dem Judentum hielt an. Seit 1979 reiste ich jährlich ins Heilige Land und beschäftigte mich mit der deutschen Geschichte, dem Holocaust, der Situation der Palästinenser und der israelischen Politik. Das – kleine – Land hat unendlich viel zu bieten für jemanden, der mit offenen Augen und Ohren die Welt bereist. Neben den unterschiedlichen Klimazonen und Gewässern waren es aber vor allem die unterschiedlichen Ethnien, die ich hier vorfand und die dem Land ihren Stempel aufdrückten. Mein erster Besuch fiel in die Zeit nach dem Friedensabkommen zwischen Ägypten und Israel in Camp David und der Friedensgespräche zwischen dem Palästinenserführer Yasser Arafat und dem israelischen Premierminister Menachem Begin. Es war eine Zeit des Aufbruchs und der Hoffnung auf eine friedliche Koexistenz in der gewaltübersäten Region. Die israelische Friedensbewegung Shalom Achshav (Frieden jetzt) war stark, ebenso wie die auf Anerkennung der Palästinensergebiete drängende sozialistische Opposition. Das Radioschiff Voice of Peace („From somewhere in the Mediterranean”), des aus Persien stammenden und in Indien aufgewachsenen ehemaligen Berufspiloten Abie Nathan, kannte jeder in Israel und verband mit den täglichen – unabhängigen – Nachrichten die Hoffnung auf einen baldigen, anhaltenden Frieden. Der Gründer der Kibbuzbewegung, Avraham Lissod, teilte mir seine Hoffnung auf einen friedliches Israel mit, ebenso wie der in Haifa lebende Violinist Joseph Abileah, der es als erster Kriegsdienstverweigerer in Israel zu relativer Bekanntheit brachte. Der Quäker war zeitlebens ein gewaltfreier Friedensaktivist und bekennender Pazifist, der 1971 gemeinsam mit seinem Freund Yehudi Menuhin die Society for a Middle East Confederation gründete, die sich für einen politischen Zusammenschluss Israels mit seinen arabischen Nachbarn einsetzt. Ich wohnte bei meinen Besuchen in Haifa bei Joseph Abileah, da er Servas-Gastgeber war. Servas International ist eine internationale, regierungsunabhängige Föderation nationaler Servas-Gruppen, ein System von Gastgebern und Reisenden aufbauten, das den Weltfrieden, gegenseitige Unterstützung und Anerkennung sowie Verständnis füreinander fördern sollte, indem es Gelegenheiten für tiefere und persönlichere Kontakte mit Menschen aus anderen Kulturen und mit anderem Erfahrungshintergrund schafft. Die Organisation wurde von dänischen Studenten nach dem 2. Weltkrieg gegründet und hatte ein Zitat Gandhis zum Motto: "Mit jeder wahren Freundschaft bauen wir die Grundlagen, auf denen der Frieden der ganzen Welt ruht." Ich war bei Servas als Reisender und Gastgeber registriert und habe dadurch auf Reisen und auch zuhause viele interessante Menschen kennengelernt und meinen Horizont erweitert. Ein grosser Vorteil von Servas ist, dass das Ganze ohne Geldaustausch abläuft. Ein Reisender darf max. 3 Tage bleiben und es wird erwartet, dass er am Alltagsleben des Gastgebers teilnimmt, um so die Kultur und Gesellschaft besser kennen zu lernen. Insbesondere in Israel hatte ich als Servas-Reisender zahlreiche interessante Begegnungen, wie z.B. mit dem wunderbaren Joseph Abileah, der mir - unfreiwillig – zu einem weiteren Schlüsselerlebnis verholfen hat. Ich wohnte bei meiner Freundin Nurit in Tel Aviv, die tagsüber arbeitete und wollte meinen Geburtstag mit Joseph Abileah in Haifa verbringen. Wir hatten uns locker dazu vorher verabredet und ich fuhr morgens mit dem Bus nach Haifa, was etwa eine Stunde dauert. In Haifa ging ich zu dem Haus, in dem Joseph eine eher kleine Wohnung hatte aber es war niemand zuhause. Handys gab’s damals noch nicht und so konnte ich keinen Kontakt zu ihm aufnehmen. Ich verbrachte den Tag in den Strassen und Parks von Haifa, die zur damaligen Zeit meine Lieblingsstadt war. Ich war um Joseph besorgt, fühlte mich alleine und hatte keine Freude an meinem Geburtstag. Ich spürte, dass der schönste Ort keinen Wert hat, wenn man nicht mit Menschen zusammen oder wenigstens im Kontakt ist, die man mag. Ich fuhr nachmittags mit dem Bus zurück nach Tel Aviv, hörte dann telefonisch, das Joseph heute einen wichtigen kurzfristigen Termin hatte, den er nicht verschieben konnte und es ihm gut ging. Ich hatte mit Nurit noch einen schönen Geburtstagsabend und vergass das Erlebnis schnell. Später kam es aber zu verschieden Anlässen immer mal wieder hoch, selbst in Momenten – oder gerade dann – wenn ich von Freunden umgeben war und mich gut fühlte!

In Israel habe ich zahlreiche Friedensaktivisten aus beiden Lagern getroffen, die friedensbeseelt waren. Jedoch war ich schockiert, wie wenig die Allgemeinbevölkerung von der jeweils anderen Seite wusste. Die – regierungstreuen - Medien hatten offensichtlich gute Arbeit geleistet und den jeweiligen Feind als das grosse Ungeheuer dargestellt, der vernichtet werden müsste. Mein Eindruck nach zahlreichen Gesprächen mit Palästinenser und Israelis war, dass beide Seiten mit ihren Familien in Frieden leben wollten und das die fortwährenden Gewaltexzesse ein Ende haben. Es war also klar, dass es an mangelnden Begegnungen der beiden Seiten lag, wodurch Vorurteile leichter aufrecht erhalten werden konnten. Mit meinem frisch-gewonnen Interesse am Leben und Wirken Gandhis wollte ich ein Zeichen setzen und den Verständigungsprozess positiv beeinflussen. Zu meinem Erstaunen lebten Mitte der 1980er Jahre etwa 40.000 Juden indischer Abstammung in Israel, was damals eine Gesamtbevölkerung von 4 Mio. hatte. Ich nahm Kontakt zur indischen Gemeinde auf und traf an mehreren Universitäten und Forschungseinrichtungen Wissenschaftler, die über Gandhi arbeiteten. In der israelisch-palästinensischen Friedensbewegung hatte ich ja schon einige an Gandhi    interessierte Aktivisten kennengelernt und so war es nicht schwer die Idee zu einer Gandhi-Ausstellung unterzubringen. Ausserdem traf ich die Nichte von Hermann Kallenbach in Haifa, die das Ausstellungsprojekt sehr befürwortete. Kallenbach war ein deutsch-jüdischer Architekt, der in Süd-Afrika lebte und dort sehr erfolgreich war. Er sympathisierte mit Gandhis Ideen und schenkte ihm den Grund und Boden für die Tolstoy-Farm nahe Johannesburg. Kallenbach war einer der engsten Freunde Gandhis in Süd-Afrika und ein enger Vertrauter. Kallenbach blieb unverheiratet und kinderlos, liebte aber seine in Haifa lebende Nichte Isa über alles. Isa besuchte ihn regelmässig in Süd-Afrika in den 1930er Jahren und erfuhr so auch viel über Gandhi. Kallenbach wurde in Haifa beigesetzt. Sein reichhaltiges Archiv erbte seine Nichte Isa, die ich 1986 erstmalig traf und die mir Einblick in ihre Schatztruhe gewährte. Ich durfte das Fotoarchiv kopieren und leistete ihr Hilfestellung beim Sortieren der Materialien. Später liess sie Teile des Archivs, nämlich die Gandhi-Kallenbach-Korrespondenz,  in England versteigern, was für einige Aufruhr bei den Gandhi-Anhängern sorgte. Dass sie den Erlös der Versteigerung weitestgehend für den Aufbau des ersten vegetarischen Restaurants in Tel Aviv einsetzte, ist den wenigsten bekannt. Ich half ihrem Sohn Eli bei der Einrichtung des Restaurants, konnte aber nicht verhindern, dass das Restaurant ein Jahr später wieder schliessen musste. Die Zeit war noch nicht reif für ein vegetarisches Restaurant in Israel. Heute wäre es wahrscheinlich eine Goldgrube! Zurück zur Ausstellung: es wurde die erste nicht-künstlerische Ausstellung in der Region an der Israelis und Palästinenser gemeinsam arbeiteten. In drei Monaten zimmerten wir eine sehenswerte dreisprachige Fotoausstellung – hebräisch, arabisch und englisch - über das Leben und Wirken von Mahatma Gandhi zusammen. Die indische Gemeinde half tatkräftig mit, ebenso wie der israelische Zweig des Versöhnungsbundes und das Palästinensische Zentrum für das Studium der Gewaltfreiheit (PZSG). Ein Vorbereitungstreffen für die Ausstellung fand in Ramallah statt. Es war das erste Mal, dass Mitglieder des Versöhnungsbundes in die von Israel besetzen Gebiete fuhren. Bei dieser Begegnung lag Spannung in der Luft, denn unsere Autos waren durch die gelben Kennzeichen leicht als „israelisch“ zu identifizieren, während die palästinensischen Autos grüne Kennzeichen hatten. Vermutlich wurde jedoch erkannt, dass wir in einer Friedensmission unterwegs waren und so gab es keine Zwischenfälle. Der Leiter des PZSG, Dr. Mubarak Awad, war zeitgleich auch mit der Organisation der ersten Intifada (Aufstand, Rebellion, Widerstand) befasst, die ursprünglich gewaltfrei ablaufen sollte. Es wurden viele Exemplare von Khan Abdul Ghaffar Khans Autobiografie gedruckt und unter den Palästinensern verteilt, um sie von der Notwendigkeit zur Gewaltfreiheit zu überzeugen. Khan war ein muslimischer Paschtunenführer im Grenzgebiet von Afghanistan und Indien (später Pakistan), der ein grosser Anhänger Gandhis war und eigenständig eine gewaltfreie Armee von 100.000 Soldaten auf die Beine stellte. Somit ist er ein ideales Vorbild für gewaltfreien Widerstand in der jüngeren Geschichte des Islam. Die Ausstellungen, die ich bis dahin in Europa organisiert hatte, fielen unter die Kategorie „Kultur“ oder „Geschichte“ und waren friedliche Ereignisse. Dass das hier anders war, wurde mir einen Tag vor der Ausstellungseröffnung bewusst, als ich gefragt wurde, ob ich die israelische Armee von der Veranstaltung informiert hätte. Wow, nein, das hatte ich nicht getan und auch keinen Gedanken daran verschwendet, handelte es sich doch um eine friedensorientierte Veranstaltung! Dass diese Frage gerechtfertigt war, wurde mir bei der Eröffnungsveranstaltung bewusst. Zum Glück hatten wir auf die Schnelle noch Sicherheitsmassnahmen ergriffen. Es kamen Redner aus allen beteiligten Lagern zu Wort, die sich über die Bedeutung Gandhis und die Notwendigkeit zur Befriedung dieser krisen- und kriegsgeschüttelten Region äusserten. Das gemischte Publikum, etwa 250 Menschen, hörten bis dahin den Rednern aufmerksam zu. Dann kam der Redner des israelischen Zweigs des Versöhnungsbundes, der zu einer Schweigeminute für die palästinensischen Opfer der israelischen Kriegspolitik aufrief. Das war für einige israelische Zuhörer im Publikum zu viel. Sie protestierten lautstark und waren emotional sehr aufgeladen. Es war der Anwesenheit einiger Soldaten geschuldet, dass es zu keinen Gewaltausbrüchen kam. Einige Anwesende verliessen zwar lautstark schimpfend den Raum aber dann war es wieder ruhig und die Veranstaltung konnte fortgesetzt werden. Im folgenden Monat fanden zahlreiche Besucher den Weg ins Ökumenische Zentrum von Tantur und schauten sich die Ausstellung an oder nahmen an den Film – und Vortragsveranstaltungen teil. Die Wirkung einer Ausstellung ist zwar nicht messbar aber ich bin ziemlich sicher, dass die Ausstellungsbesucher und unmittelbar Beteiligten von dieser – ungewöhnlichen – Aktion profitiert haben. Leider hat die Gesellschaft an sich nicht verändert und bei der einen Monat später, im Dezember 1987 beginnenden ersten Intifada flogen nach drei Tagen die ersten Steine und die guten Vorsätze zur Gewaltfreiheit waren dahin. Nun ja: der Weg ist das Ziel. Für mich war die Organisation der ersten Gandhi-Ausstellung in Israel und des reichhaltigen Beiprogramms eine sehr spannende Erfahrung.

Nach der Rückkehr aus Israel nach Berlin begannen die Vorbereitungen zu der Gruppenreise, die von der Gesellschaft für Internationale Begegnungen geplant und von Benjamin Pütter und mir durchgeführt wurden. Benjamin war ein ausgewiesener Indien- und Gandhikenner und über sein soziales Engagement, vor allem im Versöhnungsbund, bestens für diese Rolle qualifiziert. Gemeinsam arbeiteten wir eine 6-wöchige Gruppenreise aus, die ich vorab akribisch in Indien vorbereitete, denn sie beinhaltete zahlreiche Begegnungen mit Zeitzeugen und Sozialaktivisten, Besuche von gandhischen Projekten, ein 10-tägiges Workcamp und einen einwöchige Fahrradtour durch’s ländliche Saurashtra, dem westlichen Teil von Gujarat. Es fanden zwei Vorbereitungstreffen für die Reise in Berlin statt, wo den zwölf jungen Teilnehmern, alle waren zwischen 17 und 25 Jahre alt, Grundlagen für ihre erste Indienreise vermittelt wurde. Neben Faktenwissen, ging es aber vor allem darum, den TeilnehmerInnen zu vermitteln, wie wichtig es ist, geistig und körperlich gesund nach Indien zu reisen, da eine 6-wöchige Rundreise eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für Körper, Geist und Seele ist. Die Gruppe kam in Bombay und wir wohnten am Rande eines Slumgebiets, was für die meisten die erste Herausforderung darstellte, denn es war laut, es gab viele Mücken und wir schliefen auf dem Boden auf dünnen Matten. Zur Eingewöhnung schauten wir uns in den kommenden Tagen Bombay an und es gab die Möglichkeit für einige Gruppenmitglieder an der Hochzeit der jüngsten Tochter von Keshub Mahendra teilzunehmen. Ich kannte den Autohersteller von früheren Besuchen in Bombay, wo ich bei seinem Schwager wohnte, der ein Servas-Gastgeber war. Die Hochzeit war ein gesellschaftliches Ereignis in Bombay, mit einem fast unglaublichen Ausmass: Freunde, Geschäftspartner und Verwandte wurden aus der ganzen Welt mit Chartermaschinen eingeflogen und eine Woche lang fanden abends im eigens angemieteten Fussballstadion in Süd-Bombay Empfänge statt, wo jeweils tausende gutgekleidete Menschen dem Hochzeitspaar ihre Aufwartung machten und ihre Geschenke überreichten. Natürlich war das Ganze auch ein kulinarisches highlight, da jeder Abend mit feinsten Speisen und Getränken endete. Die eigentliche Hochzeit fand dann im engsten Kreis von etwa 300 geladenen Gästen in der Residenz der Mahendras statt, woran ich mit vier Teilnehmerinnen unserer Gruppenreise teilnehmen durfte. Dem vorangegangen waren Einkäufe von Saris und Kosmetik, denn unsere Mädels wollten den anwesenden herrschaftlichen Ranis (Prinzessinnen) und Damen der indischen Gesellschaft ja in nichts nachstehen. Andererseits waren wir alle näher an Gandhis Ideen dran, als den der Reichen und Schönen und so entschlossen wir uns eher schlicht aufzutreten. In jedem Fall war das ein unvergessliches Erlebnis für alle Teilnehmenden und ein grosser Kontrast zu dem, was wir hauptsächlich noch auf unserer Reise zu sehen bekommen sollten. Übrigens stellte der Riesenaufwand für diese Hochzeit keine Garantie für eine gute Ehe dar: als ich den Brautvater ein Jahr später nach dem Befinden des Paares fragte, teilte er mir mit, dass die beiden gerade geschieden wurden … Unsere Gruppenreise ging weiter nach Vedchhi in Süd-Gujarat, wo wir zu Gast waren bei dem Sohn von Gandhis Sekretär Mahadev Desai, Narayan Desai, der dort das ‚Institute for Total Revolution‘ betrieb. Wir wurden eingeführt in alternative Technologien, wie solarbetrieben Maschinen unterschiedlichster Art, Gober Gas (Methangas aus Kuhdung), Spinn-/Web- und diversen Recyclingeinrichtungen. Ein highlight waren unsere ‚Kulturabende‘ mit Narayan, der ein hervorragender Sänger und Songschreiber war. Wir hatten in den Vorbereitungsmeetings ein paar Lieder einstudiert und abwechselnd gaben Narayan und wir eins zum Besten. In Ahmedabad besuchten wir die von Gandhi gegründete Universität Gujarat Vidyapith und seinen Satyagraha-Ashram am Ufer des Sabarmati-Flusses, der heute ein Museum ist und ein reichhaltiges Archiv verwaltet. Der abendliche Ausflug ins dörfliche Vishala-Restaurant sollte uns einen Vorgeschmack vermitteln auf die kommenden Wochen, die wir im ländlichen Bereich von Saurashtra verbringen sollten. Neben authentischer Gujarati-Küche gab es in diesem ausgefallenen Restaurant auch eine umfangreiche Sammlung von traditionellen Dorfutensilien, die dort ausgestellt wurden. Darüber hinaus wurden wir von Gujarati-Musikern unterhalten, die eine für unsere Ohren recht fremden Kunst nachgingen. Das Ganze war jedoch sehr unterhaltsam und am nächsten Tag fuhren wir nach Rajkot, der Hauptstadt Saurashtras, wo wir im nahegelegenen Kasturba-Ashram zwei Wochen wohnen sollten. Wir wurden herzlich begrüsst von Abhabehn, Prabhudasbhai und deren Familien und in der ländlichen Ruhe konnten wir gut abschalten und das bislang Erlebte verarbeiten. Die Dürre hielt bereits vier Jahre an und überall lagen neben der Strasse Skelette von Kühen und anderen Tieren. Uns war bewusst, dass unser Aufenthalt eine besondere Belastung für unsere jeweiligen Gastgeber darstellte, angesichts der aktuellen Wasserknappheit. Wir hatten uns daher schon im Vorfeld bereiterklärt etwas zur Entspannung der Situation beizutragen und in einem 10-tägigen Workcamp mitzuhelfen ein Wasserreservoir anzulegen. Die indische Regierung hatte angesichts der anhaltenden Dürre einen grösseren Betrag für ‚Relief Work‘ zur Verfügung gestellt, der von einem lokalen Politiker verwaltet wurde. Natürlich erhielten wir für unsere Arbeit kein Honorar, ich war dann allerdings schon überrascht, als ich beim Besuch im kommenden Jahr sehen musste, dass das von uns angelegte Wasserreservoir heruntergekommen war und nicht benutzt wurde. Gleichzeitig hatte sich der Politiker ein tolles neues Haus gebaut. Ein Verhalten, was in Indien nicht unüblich war und wo sich kaum jemand drüber aufregte. Im Gegenteil: viele Junge Leute wollten Lokalpolitiker oder Polizisten werden, d.h. Berufe ergreifen, wo sie von der Korruption und Misswirtschaft profitieren könnten. Genügend Vorbilder gab es ja ….

Die körperliche Betätigung war für unsere Gruppe jedenfalls eine ergänzende Erfahrung und ein gutes Training für die anschliessende 7-tägige Fahrradtour von Porbandar nach Diu. Das besondere an der Tour war, dass uns Prabhudasbhai und sein Enkel Yogesh, der auch an der Organisation der Reise massgeblich mitarbeitete, begleiteten – nicht auf dem Rad aber im Begleitfahrzeug. Das war für die Teilnehmer ein grosses Geschenk, denn so konnten sie von dem enormen Wissen von Prabhudasbhai profitieren. In den 1970er Jahren war er zehn Jahre lang der Direktor von Kirti Mandir, dem Geburtshaus Gandhis in Porbandar und erstellte in dieser Zeit einen Familienstammbaum mit über 1.500 Verwandten. Das war der erste in Indien veröffentlichte Stammbaum, wo auch Frauen Berücksichtigung fanden! Das Buch in Gujarati heisst ‚Ootabapa no vadlo‘. Ich habe es später ins Englische übertragen lassen und den Stammbaum auf die GandhiServe website gestellt. Prabhudasbhai führte uns herum in Gandhis Geburtshaus und wir lauschten gespannt seinen Geschichten, die er uns erzählte.

Für ein paar Tage wurde unsere Gruppe von einem deutschen Fernsehteam begleitet. Die Aufnahmen durften aus rechtlichen Gründen nicht in Deutschland ausgestrahlt werden aber für uns waren sie eine gute Erinnerung.

Bei der Fahrradtour durch die Dörfer entlang der Küstenstrasse hatten wir etliche nette Begegnungen, vor allem wenn wir mal Rast machten. Zunächst kamen die Kinder angerannt und dann die Männer. Die Frauen hielten sich zwar im Hintergrund, waren aber dennoch sehr an uns „Ausserirdischen“ interessiert, hatten wir doch überwiegend weibliche Gruppenmitglieder. Obwohl Gujarat eher zu den reichen indischen Bundessstaaten zählt, sind die traditionellen Imbisse auf den Dörfer eher einfach: wir lernten rohe oder gebratene Chilischoten mit gebratenem gerolltem Brotfladen zu essen und Jalebi, supersüsse gebratene Getreidekringel und dazu gab’s natürlich immer wieder süssen Tee. Einerseits war das zwar alles recht gewöhnungsbedürftig und nicht gerade gesund, anderseits wurden wir mit den nötigen Kalorien und Mineralien versorgt. Wir radelten zwar nur von Sonnenaufgang bis mittags aber auch das kostete einige Kraft, zumal es selbst im Winter tagsüber noch recht warm ist. Wir übernachteten in Schulen und besuchten hinduistische Tempel und gandhische Projekte. Letztere gibt es in Gujarat zahlreich und wir waren überall willkommene Gäste. Wir hatten für die Tour stabile Fahrräder mit guten Mänteln zur Verfügung gestellt bekommen, sodass wir nur wenige Pannen hatten, die immer schnell von den lokalen Fahrradwerkstätten behoben werden konnten. Auf jeder Station waren auch Prabhudasbhai und Yogeshbhai dabei, was uns den Zugang zur lokalen Bevölkerung erleichterte und wodurch wir viele zusätzliche Informationen erhielten. Auf der Insel Diu hiess es dann Abschiednehmen von den beiden treuen Reisebegleitern und zugleich war es auch die letzte Station der 6-wöchigen Gruppenreise. Wir ruhten uns noch ein paar Tage am Strand aus und reflektierten über das Erlebte und Erfahrene. Alle waren sich einig, dass das eine Reise war, die noch lange nachwirken wird und die bei dem einen oder der anderen auch einen Einfluss auf ihr zukünftiges Leben haben sollte. Beispielhaft sei nur der damals 18-jährige Gregor erwähnt, der anfangs Gandhi eher kritisch sah und stets einen Button trug mit der Aufschrift „No Heroes“. Während der Reise entwickelte er sich zu einem ausgesprochenen Gandhi-Fan und studierte nach seiner Rückkehr in Hannover Gandhis Bildungs- und Erziehungskonzept. Heute ist Prof. Dr. Dr. Gregor Lang-Wojtasik einer der führenden Gandhi-Wissenschaftler in Deutschland und der ersten Reise nach Indien folgten noch zahlreiche nach. Etwa 30 Jahre nach dieser Gruppenreise schrieb mir eine Teilnehmerin, wie sehr sie von dieser Reise profitiert hätte und wie diese auch einen Einfluss auf ihr späteres Leben hatte.

Wieder in Bombay, machte ich meinen Vorhaben wahr, die Familie des Gandhi-Biografen Vithalbhai Jhaveri zu besuchen. Gemeinsam mit der Direktorin des Gandhi-Museums fuhren wir in das Haus, wo Jhaveris Familie lebte. Es befand sich etwa 30 Meter vom Strand entfernt im Bombayer Stadtteil Worli. Sein Sohn erklärte uns, dass nach dessen Tod das Zimmer des Vaters ausgeräumt wurde. Seine Fotosammlung aber, die uns hauptsächlich interessierte, wäre noch in einer grossen hölzernen Überseekiste auf der Terrasse. Er gestatte uns, die Kiste zu öffnen und einen Blick reinzuwerfen. Was sich uns da offenbarte, war die umfangreichste Sammlung von Fotos von Mahatma Gandhi und der indischen Unabhängigkeitsbewegung! Auch der Sohn war über diese Entdeckung überrascht, denn er hatte sich sie nie mit ‚dem Hobby‘ seines Vaters beschäftigt. Da einige Fotos schon mit der Bildfläche zusammengeklebt waren, war es höchste Zeit, dass die Kiste von der Terrasse verschwindet und die Bilder eine archivarische Sortierung, Konservierung, Vervielfältigung und weitgehende Nutzung erfahren. Auf unser Anraten hin, schrieb Jhaveris Sohn nun einen Brief an mehrere indische Gandhi-Organisationen und das National-Archiv in Neu-Delhi. Von den Gandhi-Organisationen erhielt er ausschliesslich Absagen, da für die notwendige Arbeit zu wenig Platz, zu wenig Geld oder zu wenig Manpower zur Verfügung standen. Aus meiner Sicht waren das alles Ausreden und ein Beleg für die pathetische Situation, in der sich die Gandhi-Organisationen befanden. Gandhi war ein sehr guter Fundraiser und bei seinem Tod hatte er einen grossen Betrag gesammelt, der seiner zukünftigen Arbeit zugute kommen sollte. Diese Gelder wurden von der indischen Regierung als Gandhi Memorial Fund (GMF) tituliert und vom Gandhi Memorial Trust (GMT)  in Delhi verwaltet. Neben sieben offiziellen Gandhi-Museen betrieb der Trust auch etwa 2000 Spinn- und Webeinrichtungen im ländlichen Bereich, hauptsächlich um Frauen auf den Dörfern und in Kleinstädten ein Zusatzeinkommen zu ermöglichen. Der GMT ist eine gemeinnützige Einrichtung, der in den 1950er und 1960er Jahren sich von Spenden und den Zinsen des angelegten GMF finanzierte. Das funktionierte bis 1969, wo weltweit der 100. Geburtstag von Gandhi begangen wurde. Danach wurde es still um Gandhi, da das Land sich Mitte der 1970er Jahre für zwei Jahre in einer Notfall-Situation (Emergency) befand und nach Indira Gandhis Ermordung 1984 ihr Sohn Rajiv das Land radikal modernisierte. Zu dieser Zeit galten die Ansichten von Gandhi als veraltet, der indischen Geschichte zugehörig und unzeitgemäss. Der GMT erhielt nur noch wenig Spenden und aufgrund der steigenden Inflation sank die Kaufkraft der Zinsen gewaltig. Die Gandhi-Organisationen verpassten es, sich zu modernisieren und zu verjüngen. Vor allem hätten sie ihr Wirtschaftskonzept ändern müssen, zumal sich Gandhi stets für Eigenständigkeit und Selbsthilfe eingesetzt hat. Die Abhängigkeit von Regierungsgeldern, die in grösserem Umfang erst wieder mit dem Premierminister Narasimha Rao 2004 einsetzten, führte zu einer Trägheit und Unfähigkeit die Institutionen zeitgemäss umzustrukturieren. Die Aufgabe der Gemeinnützigkeit und Einführung eigener Einnahmequellen hätten sich nicht nur positiv auf die Bankkonten ausgewirkt, sondern auch auf das Selbstbewusstsein der leitenden Mitarbeiter. Das wurde verpasst und so besetztes unqualifiziertes Personal wichtige Positionen bis zu ihrem Tod. Die Tatsache, dass viele von ihnen sich im Unabhängigkeitskampf bewährt haben, bedeutet nicht, dass sie auch gute Archivare oder Museumsleiter. Medienaffinität und Öffentlichkeitsarbeit finden, mit der neuen Generation, nur langsam den Weg in die indischen Gandhi-Organisationen. Meine konstruktiven und konkreten Vorschläge den Satyagraha-Ashram in Ahmedabad und das Bombayer Gandhi-Museum Mani Bhavan attraktiver zu gestalten und auch mit westlichen Museen zu kooperieren, wurden dankend angenommen … und ad acta gelegt.

So war es nicht verwunderlich, dass die angeschriebenen Gandhi-Organisationen nicht die grosse Aufgabe übernehmen wollten, die – einmalige – Sammlung von Jhaveri zu bearbeiten. Lediglich das Nationalarchiv sagte zu, die Sammlung zu beherbergen. Nach eingehender Recherche entschied sich der Eigentümer der Sammlung, Jhaveris Sohn, gegen das Nationalarchiv, da der Zugang zu den dort beherbergten Materialien nur sehr schwer ist und im wesentlichen Fachkräften vorbehalten. Das war jedoch nicht in unserem Interesse und so wurde entschieden, die etwa 9.500 Fotos nach Berlin zu schicken, wo ich in meinem Institut and der TU Zugang zu einem perfekt ausgerüsteten Fotolabor mit einer Leica-Reprokamera verfügte. Die Sammlung wurde im weiteren Verlauf genau aufgelistet und bei der staatlichen indischen Behörde registriert und 1989 zur Ausfuhr, mit anschliessender Rückführung, zugelassen. Eine Menge Arbeit erwartete mich, auf die ich mich jedoch riesig freute!

Persönlich hatte ich immer wieder ein wiederkehrendes witziges Erlebnis, wenn ich mit Bus oder Bahn durch’s Land reiste. Nach der Ankunft auf einer Bus- oder Bahnstation kamen häufig jugendliche und junge Erwachsene auf mich zugerannt und wollten ein Autogramm. Sie waren dann sehr aufgeregt und sprachen mich mit ‚Jackie‘ an. Sie verwechselten mich mit dem Schauspieler Jackie Shroff, der damals zu den bekanntesten und beliebtesten Akteuren im indischen Film zählte. Ich hatte offensichtlich eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm, sodass es immer mal wieder zu der Verwechslung kam. Ehrlicherweise habe ich dann jeweils den jungen Menschen gesagt, dass ich nicht Jackie Shroff bin und habe ihnen auch kein Autogramm gegeben. Autogramme waren die Selfies in der Zeit vor dem Mobiltelefon und ich habe sie in Indien regelmässig geben müssen bei meinen Besuchen in Schulen oder anderen Einrichtungen – aber eben in meinem Namen und nicht als Jackie Shroff. Da diese Verwechslung aber ziemlich regelmässig passierte, wollte ich dann doch mal wissen, was an der Ähnlichkeit dran ist. Bei der Eröffnung unserer Gandhi-Ausstellung in Stuttgart lernte ich den Bürgermeister Bombays kennen, der mich zu sich einlud. Nach der Gruppenreise fuhr ich nach Bombay zurück und nahm die Einladung gerne an. Wir frühstückten zusammen in seiner Dienstresidenz und unterhielten uns u.a. auch über die Filmindustrie. Da auch ihm die Ähnlichkeit mit Jackie nicht entgangen war, ermöglichte er mir am nächsten Tag einen Besuch in der Filmcity, wo Jackie häufig Aufnahmen hatte. Ich schaute mir die Aufnahmen zu verschiedensten Filmen an und sah tolle Schauspieler aus der Nähe, wie Amitabh Bachchan, Anil Kapoor und Chunky Pandey – aber Jackie war heute nicht hier. Der Bürgermeister gab mir dann die Telefonnummer von Jackies Management und wir verabredeten uns auf den Sets in Juhu am kommenden Tag. Da es zwischen den Dreh lange Pausen gibt, hatten wir ausreichend Gelegenheit zu Gesprächen. So wie mit meinen gandhischen Augenzeugen unternahm ich auch mit Jackie ein Interview über die indische Filmindustrie, die ja sehr speziell ist. Wir verstanden uns gut, zumal er auch ein Interesse am Leben in Europa und meinen gandhischen Aktivitäten hatte. In den Folgejahren haben wir uns immer mal wieder auf den Sets getroffen und ausgetauscht. Nach dem Mauerfall schenkte ich ihm ein Stück von der Berliner Mauer zum Geburtstag, was ihn sehr bewegte. Da ein Schauspieler sich ‚von Amts wegen‘ fit und attraktiv halten muss, ist unsere Ähnlichkeit über die Zeit verblasst – glaubte ich. Als ich 2018 mit dem Taxi durch Mumbai fuhr, sprach mich der Taxifahrer doch tatsächlich an und fragte, ob ich Jackie sei. Ich war mehr als verblüfft ….

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1989

Mittlerweile hatte ich mich zu einem Gandhi-Foto-Experten entwickelt, da ich zahlreiche Fotografen und Sammler aufgesucht und deren Bilder gesehen hatte. Die beiden umfangreichsten Sammlungen, die von Kanu Gandhi und Vithalbhai Jhaveri, hatte ich bei mir in Berlin und arbeitete mit ihnen täglich. Ich kannte mittlerweile jedes Bild mit der entsprechenden Bildunterschrift, wusste wann und wo es aufgenommen wurde und wer der Fotograf war. Die Bilder aus Jhaveris Sammlung stammten von ca. 350 unterschiedlichen Fotografen aus Indien und dem Ausland. Das bemerkenswerte an Jhaveri war, dass er nie Bombay verliess, um die Fotos zu sammeln. Das erledigte er ausschliesslich per Korrespondenz, die nach seinem Tod in den Familiensitz nach Bhavnagar transportiert wurde. Jhaveris Familie gestattete mir mehrere Wochen dort zu verbringen und den Nachlass von Jhaveri zu sichten. Dabei las ich die Briefe, die er mit den Fotografen austauschte sehr genau und notierte auch deren Adressen. Jhaveri nutzte sein Bildmaterial für seine grossen permanenten Foto-Ausstellungen in Bhavnagar und Delhi sowie kleinere in Bombay und Poona. Er nutzte es für seinen Monumentalfilm MAHATMA sowie für die acht-bändige Biografie von D.G. Tendulkar, für die er die Bildauswahl machte und die über 1.200 Fotos von Gandhi enthielt. Die Akribie und Ausdauer, mit der Jhaveri über Jahrzehnte Fotos von Gandhi systematisch sammelte, beeindruckten und inspirierten mich, seine Arbeit fortzuführen. Zunächst war Jhaveri im Unabhängigkeitskampf involviert und betrieb mit dem späteren Sozialistenführer Dr. Lohia und der schon erwähnten Dr. Usha Mehta ein Untergrundradio im Rahmen der ‚Quit India‘-Bewegung 1942. Als die illegale Radiostation aufflog, wurden alle inhaftiert zu mehrjährigen Haftstrafen. Nach der Entlassung 1944 begann Jhaveri Fotos von Gandhi zu sammeln, war er doch mit der Fotoauswahl zu einem Jubiläumsband zu Gandhis 75. Geburtstag unter dem Titel ‚Gandhiji‘ beauftragt. Danach setzt er das Sammeln der Bilder fort und schrieb auch ausländische Fotografen an, wie Margarete Bourke-White oder Henry Cartier-Bresson. Nahezu zeitgleich begann auch Gandhis jüngster Sohn die Fotos seines Vaters zu sammeln um dessen Leben lückenlos visuell zu dokumentieren. Nach Gandhis Tod erhielt Devadas das Angebot als Chefredakteur der 1924 von seinem Vater geründeten Zeitung Hindustan Times zu arbeiten, das er gerne annahm. Die bis dahin gesammelten Fotos überliess er Vithalbhai Jhaveri, der zu dem Zeitpunkt intensiv gemeinsam mit D.G. Tendulkar an der Gandhi-Biografie arbeitete, die von beiden gemeinsam herausgegeben wurde. Die Herausgabe und der Vertrieb der acht Bände zog sich über mehrere Jahre hin und im Anschluss daran hatte Jhaveri den Wunsch, anlässlich des 100. Geburtstags von Gandhi, einen umfangreichen Dokumentarfilm zu erstellen sowie eine Fotoausstellung in einem eigenen Pavillion „My Life is my Message“ in unmittelbarer Nähe der Gandhi-Gedenkstätte in Rajghat, nahe dem Jamuna-Fluss. Beides erledigte er mit Bravour, wofür er 1969 den prestigeträchtigen Orden ‚Padma Bhushan‘ aus den Händen des indischen Präsidenten erhielt. Und nun befand sich seine gesamte Fotosammlung bei mir in Berlin! Ich war mir der Verantwortung bewusst und sortierte und reinigte die Bilder sorgfältig. Es wurden Repronegative erzeugt, die Bilder und Negative in archivfesten Pergamintüten verstaut und viele Ordner angelegt. Dieser Prozess dauerte bis zur Rückführung der Sammlung etwa 5 Jahre, bis zu Gandhis 125. Geburtstag im Jahr 1994. Später wurde das gesamte Material auch gescannt und digital gereinigt.

Meine Kenntnis von Gandhi und insbesondere dessen Fotos wurden im weiteren Verlauf von zahlreichen Medienproduktionen angefragt und genutzt: Film, TV, Theater, Oper, Musical, Zeitungen und Zeitschriften.

Da Indien nicht gerade für seine Geschichtsschreibung und Dokumentation von Ereignissen bekannt ist, gab es auch bei den Bildunterschriften der Gandhi-Fotos etliche Unstimmigkeiten. Ein Bild steht dafür exemplarisch: schon bei meinem ersten Indienaufenthalt fiel mir immer wieder in den verschiedenen Gandhi-Museen das Bild ins Auge, auf dem Gandhi am Strand hinter seinem Enkel Kahandas (Kanaa, Kanu) hinterherläuft, sein Gehstock aus Bambus (‚lathi‘) auf ihn gerichtet. Die Bildunterschriften lauteten einhellig „The leader being led“ (Der Führer wird geführt), den Eindruck erweckend, dass es sich um einen Stock handelt, den der Junge zieht. Ich hatte Zweifel an dieser Unterschrift, da mir der Stock zu lang erschien und hoffte, irgendwann mal Gandhis Enkel treffen zu können, um die Geschichte dieses Fotos zu erfahren. Und das sollte tatsächlich geschehen! Bei einem meiner zahlreichen Aufenthalte bei Prabhudasbhai erwähnte er, das Gandhis Enkel Kanaa auf der Durchreise in Indien ist und morgen zu Besuch kommt. Kanaa wohnte damals mit seiner Frau in den USA und war anerkannter Wissenschaftler bei der NASA. Nach anfänglichem Kennenlernen konnte ich ihm tatsächlich die Frage aller Fragen stellen und er beantwortete sie mir gerne und amüsiert: seine Kindheit verbrachte er im Satyagraha-Ashram in Sevagram und begleite ihn gelegentlich, gemeinsam mit seinen Eltern, auf Reisen. So auch 1937: gemeinsam mit Gandhis Ärztin, Dr. Sushila Nayar, spazierten sie am Juhu-Beach in Bombay. Kanna, der seinen Opa liebte und ihm nacheiferte, hatte einen eigenen Gehstock. Nur lief er nicht so schnell wie Gandhi und fiel immer wieder zurück, was Gandhi veranlasste, Kanaa vor sich laufen zu lassen. Als der jedoch wieder langsamer wurde, stiess Gandhi ihn mit seinem Gehstock in den Rücken, damit er wieder schneller laufen sollte. Das Foto wurde just in dem Moment aufgenommen, als die beiden Gehstöcke sich im gleichen Winkel  befanden und so den Eindruck vermittelten, dass es sich um einen Gehstock handelt. Unterschiedlicher hätten die Bildunterschriften nicht sein können! ‚Der Führer wird von einem Kind geführt‘ und ‚Gandhi trieb das Kind an, um schneller zu laufen.‘ Diese Geschichte erzählte ich einem befreundeten Journalisten in Bombay und kurze Zeit später wurde sie in der Zeitung Indian Express veröffentlicht.

Da sich meine Indienaufenthalte auf die Wintermonate beschränkten, konnte ich im Sommer häufig an der Gandhi Summer School der englischen Gandhi Foundation teilnehmen. Diese Einrichtung wurde etwa zur gleichen Zeit gegründet wie das Gandhi-Informations-Zentrum, nach dem Welterfolg des Films GANDHI von Richard Attenborough. Dieser gab die Initialzündung zur Gründung der Gandhi Foundation und wurde auch ihr Präsident auf Lebenszeit. Die Gandhi Summer School fand stets in der ersten Augustwoche statt in einer Abtei in Sutton Courtney bei Abingdon im schönen Oxfordshire oder später in einer ebenfalss in Oxfordshire gelegenen alten Schule. 30 – 40 Menschen jeglichen Alters und unterschiedlicher Herkunft kamen zusammen, um für eine Woche in einer ashramähnlichen Atmosphäre zusammenzuleben. Es wurde zusammen gekocht, das Haus gereinigt und der Garten beackert. Täglich gab es vormittags auch Vorträge und Diskussionen mit interessanten Teilnehmern, wie z.B. Marjorie Sykes, Satish Kumar, A.B. Bhardwaj und S.V. Govindan. Für mich stellte die Gandhi Summer School die beste Möglichkeit dar, mich ausserhalb Indiens mit anderen Gandhi-Interessierten auszutauschen, zumal ich mit dem Sekretär der Gandhi Foundation. Surur Hoda und seiner Familie eine freundschaftliche Beziehung pflegte.

Das Jahr 1989 war aber natürlich hauptsächlich geprägt von den Ereignissen in Deutschland und insbesondere in Berlin. Es wurde Geschichte geschrieben und ich war mittendrin: ich stand auf der Berliner Mauer nahe dem Brandenburger Tor und schaute den hilflosen DDR-Grenzsoldaten in die Augen. Einige Tage später fiel die Mauer und die DDR zerbrach. Die Menschen strömten in den Westen ‚zum Gucken’ und gingen dann gerne wieder in ihr kohleofenbeheizten Mietskasernen zurück. Reisefreiheit war das, was die meisten DDR-Bürger vorwiegend anstrebten – aber eine Vereinigung mit der BRD? Ich glaube, das haben selbst die Montags-Demonstranten in Jena und Leipzig und die Künstler auf dem Alexanderplatz nicht angestrebt. Eine Reform des Sozialmus? Ja! Aber eine Vereinnahmung durch den Westen? Nein! Die DDR war zu schwach zum Überleben und systemimanente Reformen hätten einer grossen Anstrengung bedurft. Die Tür wurde dem Kapitalismus einen Spalt breit geöffnet und schon bald war die ehemalige DDR vereinnahmt von Versicherungsvertretern, Zigaretten, Alkoholprodukten und Waren, von denen die Menschen vorher nicht wussten, dass sie sie jemals benötigen würden. Gleichzeitig wurden die Faktoren, die das Leben in der DDR sicher machten, aufgelöst: Grundnahrungsmittel, Wohnungsmieten und Kindergärten wurden teurer und die Arbeitslosigkeit wuchs. Obwohl ich im Westen aufgewachsen bin, kann ich den Unmut der Ex-DDRler über die Art und Weise, wie sich die (Wieder-)Vereinigung vollzog, verstehen. Ich wäre auch stinksauer gewesen, wenn man mir so den Boden unter den Füssen weggezogen hätte, auch wenn der Boden marode war! Dieser Unmut über das ‚Wie‘ hat sich bis heute hinübergerettet und die Mauer wird in den Köpfen von einigen erhalten bleiben; einigen wenigen die evtl. wieder mehr werden …

Ich hatte in dieser „Wendezeit“ den Kontakt zu den Wissenschaftlern der Indologie an der Humboldt-Universität zu Berlin ausgebaut und war bemüht unser Engagement für die Verbreitung der Lehren Gandhis auch auf den Osten des Landes, die jetzt ‚ehemalige‘, damals ‚noch‘ DDR, auszuweiten. Wir organisierten noch vor der Wiedervereinigung Treffen mit Mitarbeitern der Akademie der Wissenschaften und der Humboldt-Universität in West- und Ost-Berlin. Eine Präsentation unserer Gandhi-Ausstellung wurde gemeinschaftlich an der Humboldt-Universität organisiert und es entstand das Gandhi-Informations-Zentrum (Ost). Die Interaktion mit möglichen informellen Mitarbeitern (IM) der Staatssicherheit der DDR hat mich nie tangiert, da mir klar war, dass die wissenschaftliche Elite der DDR, ihrer Arbeit, zu der in dem konkreten Fall auch Reisen nach Indien gehörten, nur nachgehen konnte, wenn sie der Stasi zuarbeiteten. Dieses Thema war zwar unterschwellig immer vorhanden, hat mich in meinem Verhalten zu meinen DDR-Kontakten aber nie beeinflusst, weil ich dem Menschen begegnet bin und nicht bewusst dem Stasi-IM. Ausserdem hätte ich nicht sagen können, wie ich mich an deren Stelle verhalten hätte. Lange nach der Wiedervereinigung habe ich mir meine Stasi-Akte schicken lassen und musste feststellen, dass eine Begegnung mit Herbert Fischer im Jahr 1986 vom Stasi-IM „Konrad“ der Stasi gemeldet wurde, ebenso wie meine Indienreisen und mein Interesse an Gandhi. Auf Nachfrage wurde mir mitgeteilt, dass sich hinter dem Decknamen „Konrad“ niemand anders als mein guter Freund Roland Beer steckte! Zunächst war ich natürlich schockiert und hätte Roland gerne zur Rede gestellt, wenn er noch gelebt hätte. Mir ist aber dann bewusst geworden, dass er gewisse Privilegien in der DDR nur geniessen konnte, dank seiner Zuarbeit zur Stasi. Und das, was er über mich mitteilte, war absolut harmlos und hat mir nicht geschadet. Insofern hege ich im Nachherein keinen Groll gegen meinen leider zu früh verstorbenen Freund Roland Beer, sondern habe sogar Verständnis für sein opportunistisches Verhalten, da ich seine grosse Liebe zu Indien kannte, die ihn dazu bewogen hat.

Wir hatten ein Reihe interessanter Veranstaltungen und mit der Wiedervereinigung von Ost und West-Deutschland verschmolzen beide Teile zu einer Institution zusammen, die sich 1990 dann in der Gründung des Gandhi-Informations-Zentrum e.V. manifestierte. Die ersten drei Jahre fungierte ich als Vorstandsvorsitzender, bevor ich mich ganz der Archivarbeit zu Gandhi widmete.

Ein paar Wochen verbrachte ich im Winter wieder in Israel. Es sollte der letzte Aufenthalt für 26 Jahre werden. Und es wurde ein spannender: ich wohnte abwechselnd bei meiner Freundin Nurit in Tel Aviv und bei Lina, einer christlich-palästinensischen Freundin und ihrer Familie in Ost-Jerusalem. Ihr Vater, ein bekannter Arzt, war früher Bürgermeister von Ost-Jerusalem, Gesundheitsminister in Jordanien und Berater von König Hussein. Es war ein besonderes Ereignis mit dieser Familie das Weihnachtsfest 1989 zu verbringen. Am 22. Dezember gingen wir zu einem Vortrag von dem Süd-Afrikanischen Erzbischof Desmund Tutu, der auf dem Shepherd’s Field, einem vermeintlichen Geburtsort von Jesus, nahe Bethlehem, eine flammende Rede zugunsten der Sache der Palästinenser hielt. Letztlich war ich aber von dem Gedanken beseelt, dass eine bessere Kenntnis des jeweils anderen Seite, zu einer friedlichen Koexistenz führen kann. Und so fragte ich Lina und ihre Familie, ob Nurit am Weihnachtsessen teilnehmen könne. Nurit und Lina kannten sich von der gemeinsamen Arbeit an der Gandhi-Ausstellung aber es war für Nurit dennoch nicht selbstverständlich in einem christlich-palästinensischen Haushalt in Ost-Jerusalem das Weihnachtsfest zu begehen, das meistens mit dem jüdischen Hanukka-Fest zusammenfällt. Und es kostete auch der Familie von Lina Überwindung, gemeinsam mit einer Israelin den Weihnachtsbraten im eigenen Haus zu teilen. Beide Parteien willigten ein in das Experiment. Ich konnte als Aussenstehender und Beobachter zwar eine gewisse Spannung und eine leichte Unsicherheit im Umgang miteinander feststellen aber nach zwei gemeinsamen Tagen im Haus von Lina kann das Experiment durchaus als Gelungen bezeichnet werden. Ich bin ganz sicher, wenn sich mehr Menschen in dieser Region aufeinander zubewegen würden, wäre eine friedliche Koexistenz keine Utopie.

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1990

Mein diesjähriger Aufenthalt in Indien stand ganz im Zeichen von Archivarbeit. Ich verbrachte mehrere Wochen in Rajkot, wo ich gemeinsam mit Abhabehn die Arbeit an den Bildunterschriften abschliessen wollte. Dazu kam es aber nicht, da sie mir bei meinem Eintreffen freudig erklärte, dass sie in einem versteckten Winkel ihres Hauses ein kleines Buch mit handschriftlichen Aufzeichnungen ihres Mannes fand, welches u.a. auch die Bildunterschriften aller seiner Fotos von Gandhi beinhaltete. Das war wirklich eine Freude, so hatten wir nun eine verlässliche, authentische Quelle für die Bilder! Als wir diese mit den in den letzten Jahren von Abhabehn und mir ausgearbeiteten Bildunterschriften verglichen, stellten wir fest, dass, ihr Gedächtnis schon deutliche Lücken aufwies und freuten uns umso mehr über den wichtigen Fund. Da Kanu auch eine 8mm und 16mm Filmkamera besass, machte er einige kurze 8mm-Aufnahmen von Gandhi im Satyagraha-Ashram von Sevagram und in Wardha. Ein längerer 16mm-Film hatte Rohaufnahmen von Gandhis  Friedensmarsch in Noakhali 1946/47. Da Abhabehn keinen Filmprojektor besass, bat sie den befreundeten Inhaber eines Fotostudios in Rajkot, mit seinem Projektor vorbeizukommen, sodass wir uns den längeren Film in ihrem Haus anschauen konnten. Bachhubhai kam mit einem alten, sehr schweren und stabilen Projektor russischen Fabrikats vorbei und legte den Original-Film ein, von dem es nur dieses eine Exemplar gab. Wir begannen uns den Film anzusehen, als der Projektor plötzlich stoppte, da die Greifpunkte, die den Film an der Perforation weiterbewegen sollten, ins Leere griffen. Der Film hatte unter den Jahren gelitten und war dehydriert, sodass er in seiner Form nicht mehr glatt, sondern ziemlich verschrumpelt war. Als der Film stoppte, brannte die starke Birne den Film an dieser Stelle durch, sodass der Projektor sofort ausgeschaltet werden musste. Von Hand wurde der Film ein Stück weiterbefördert, der Projektor wieder angeworfen und wir konnten den Film weiterschauen. Aber wieder nur ein paar Sekunden, bis die Greifpunkte ins Leere griffen und das Zelluloid an dieser Stelle verschmorte. Da es sich um ein Unikat handelte, haben wir den Filmabend vorzeitig beendet und überlegt, wie der Film restauriert und gerettet werden könnte. Da Indien die grösste Filmindustrie der Welt hat, kamen das Film and Television Institute of India in Poona in Frage oder die Films Division of India in Bombay. Beide lehnte Abhabehn jedoch ab, das sie befürchtete, dass der Fall Publik werden und der schlechte Zustand des Films ihr angelastet werden könnte. Es war ihr Wunsch, dass ich den Film mit nach Deutschland nehmen sollte und dort restaurieren lassen. Ihr Wunsch war mir Befehl; sie schrieb mir eine Erklärung, die ich evtl. hätte beim Zoll vorlegen müssen und ich packte die Filmdose ein, ohne zu wissen, was mich erwartete. In Berlin kontaktierte ich drei Filmlabore, die mir nach Ansicht des Films alle mitteilten, dass der Dehydrierungsprozess zu weit fortgeschritten sei und der Film nicht mehr restauriert und auf Video überspielt werden kann. Es tat mir in der Seele weh, dass dieses wichtige Zeitdokument nicht mehr zu retten sein soll und ich wandte mich an das Bundesarchiv in Koblenz, die technisch von allen Laboren in Deutschland am fortschrittlichsten waren. Nach einigen Wochen erhielt ich einen Anruf vom Leiter des Bundesarchivs, der mir ebenfalls mitteilte, dass der Film nicht mehr zu retten sein und sandte ihn mir zurück. Dann gab es einen dieser – unerklärlichen – Momente, wie ich sie im Rahmen meiner Arbeit über Gandhi mehrfach erlebte. Beim sonntäglichen Zeitungsstudium in Berlin las ich einen Artikel über das neue Getty Film Labor, welches als Bestandteil des British Film Institutes, London, in Kürze eröffnet werden sollte und welches über die modernste technische Ausrüstung verfügte. Ich schilderte dem BFI den Hintergrund des Films und sie erklärten sich bereit, zu versuchen den Film auf Video zu überspielen, nach der notwendigen konservatorischen Behandlung. Lange hörte ich nichts vom BFI und hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, den Film jemals in voller Länge sehen zu können. Nach zehn Monaten erhielt ich jedoch einen Anruf von einem BFI-Mitarbeiter, der mir mitteilte, das der Film, nach einem sehr aufwändigen – und kostspieligen – Konservierungsprozess auf S-VHS überspielt werden konnte. Ich freute mich riesig, im gleichen Moment habe ich aber auch an die mögliche hohe Rechnung gedacht, die eventuell auf mich zukommt. Die Besonderheit des Films und dessen Hintergrund berücksichtigend, verzichtete das BFI auf eine Inrechnungstellung ihres Aufwandes, wenn der Film in das BFI-Archiv übernommen werden kann. Dem stimmte ich nach Absprache mit Abhabehn natürlich gerne zu.

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1991

Bei meinem nächsten Besuch in Ahmedabad wurde der Film in Anwesenheit von Abhabehn und Prabhudasbhai am 30. Januar 1991 im Rahmen einer Gedenkveranstaltung im Satyagraha-Ashram erstmalig der Öffentlichkeit präsentiert. Aus diesem Anlass hatte ich für den Ashram eine Fotoausstellung mit Bildern von Kanu Gandhi erstellt unter dem Titel „Our Days With Bapu“, wo Reminiszenzen von Abha und Kanu Gandhi eingebaut wurden. Da es in Indien noch zahlreiche unentdeckte Schätze gab, d.h. Fotos, Dokumente, Filme, etc., schlug ich immer wieder den technisch und personell unterentwickelten Gandhi-Museen eine Kooperation mit westlichen Museen vor, die einen hohen Standard hatten und wo eine Bereitschaft zur Kooperation vorhanden war. Indien hatte die Originalmaterialien und der Westen die technische und personelle Ausstattung um diese zu konservieren und restaurieren. Einige Museen hatten mir in Deutschland bereits Interesse an einer solchen Kooperation signalisiert, jedoch war diese Idee den Indern suspekt, befürchteten sie doch, dass man ihnen ihre Schätze wegnehmen wollte. Im gleichen Moment sind ihnen diese Schätze aber unter den Fingern zerbröselt, wie eine alte Ausgabe von Indian Opinion, die ich im Gandhi-Ashram in Ahmedabad einsehen durfte. Für mich war das natürlich ein Trauerspiel, beflügelte mich aber auch, weiterhin auf eigene Faust, über bislang unbekannten, seltenen oder wichtigen Materialien von und über Gandhi ‚search and research‘ zu betreiben und mitzuhelfen, diese Materialien zu konservieren und international für Publikationen und Forschung zur Verfügung zu stellen. Die Presse und später auch das Fernsehen wurden auf mich aufmerksam und begannen kontrovers über meine, häufig kritischen, Ansichten zum Ansehen und Verständnis von Gandhi in Indien zu berichten. Mein ureigenstes Interesse war es jedoch nicht, Gandhi in Indien wiederzubeleben, sondern geeignete Materialien für unsere Öffentlichkeitsarbeit im Westen zu sammeln, um den dortigen Menschen die Möglichkeit zu geben, Gandhis Leben und Wirken eingehend zu studieren. So verfügte das Gandhi-Informations-Zentrum in Berlin schon bald über das umfangreichste audio-visuelle Archiv von Gandhi ausserhalb Indiens. Wir nutzen die riesige Foto-, Film-, Audio- und Dokumentensammlung sowie die reichhaltige Bibliothek für unsere eigenen Projekte und stellten sie aber auch anderen Organisationen oder Privatpersonen für ihre Arbeit über Gandhi zur Verfügung. Da es zu der Zeit schwierig war, geeignete Materialien aus Indien zu erhalten, wurde unser Service immer mehr geschätzt – mittlerweile auch in Indien selbst!

Das Jahr 1991 war geprägt vom ersten Golf-Krieg, wo die USA im Rahmen ihrer ‚Desert Storm‘-Offensive erstmalig eingebettete Journalisten einsetzten, die live von der Front berichteten - in die Wohnzimmer der Welt. Ich sass im Wohnzimmer von Prabhudasbhai und sah gemeinsam mit ihm, seinen Kindern, Enkeln und Urenkeln den Horror des Krieges in Kuweit. Da erstmalig schonungslos und direkt von einem Kriegsschauplatz berichtet wurde, hatten insbesondere die Kinder und Jugendlichen Probleme damit das Gesehene zu verarbeiten. Soviel schonungslose Gewalt, Verwundete und Tote hatten sie selbst in Spielfilmen vorher noch nicht gesehen. Da die Familie von Prabhudasbhai vorwiegend aus Lehrern und Sozialarbeitern bestand, kam schnell die Frage auf, was man dieser Gewalt, die aktuell in den Medien zu sehen ist, entgegensetzen kann. Die Antwort fiel nicht schwer: der Gewalt muss Gewaltfreiheit entgegengesetzt werden, in dem die Kinder und Jugendlichen sich eingehend mit dem Leben und der Lehre Gandhis beschäftigen, der ja einen Teil seiner Jugend in Rajkot verbracht hatte. Wir fanden, dass ein Malwettbewerb unter dem Titel „Mahatma Gandhi - As I See Him“ (Mahatma Gandhi, wie ich ihn sehe), zunächst für alle Schulen in Rajkot ein geeignetes Projekt war, Schüler, Lehrer, Künstler und Eltern einzubinden. Tatsächlich wurde in Vorbereitung auf den Malwettbewerb Gandhis Leben und Wirken im Unterricht so eingehend behandelt, wie nie zuvor; Künstler wurden gefragt, wie man Gandhi und dessen Ideen am besten in einem Bild darstellen kann und die Kinder befragten zuhause ihre Eltern nach Gandhi. Das gemalte Bild stellte sich auch als ein ideales Medium dar, da zum Verständnis keine Sprachkenntnisse nötig waren und das Bild so grenz- und kulturübergreifend verstanden werden konnte. In der Jury sassen neben einem Künstler und Lehrern auch Abhabehn, die ja besser als alle anderen (ausgenommen Prabhudasbhai) die Bilder auf Authentizität bewerten konnte. Dieses Ereignis, was in dieser Form zum ersten Mal stattfand, wurde gerne von den Median auf- und auch überregional wahrgenommen. Die besten Bilder waren atemberaubend gut und so stellte sich die Frage, was man nach dem Malwettbewerb mit ihnen anstellen könnte. Zunächst einmal fand aber die Preisverleihung statt, auf der ich eine vorher einstudierte Rede auf Gujarati hielt. Interessanterweise war der junge Künstler, dessen Bild mit dem 1. Preis ausgezeichnet wurde, der Sohn eines Waffen- und Munitionsfabrikanten! Ich nahm die Bilder dann nach Deutschland mit und besprach mit meinen Mitarbeitern im Gandhi-Informations-Zentrum und befreundeten Lehrern, wie man sie am sinnvollsten einsetzen könne. Die Bilder wurden dann in Schulen ausgestellt, die Lehrer gingen im Unterricht, in den unterschiedlichsten Fächern, auf Gandhi ein und schliesslich schreiben die deutschen Schüler den jungen indischen Künstlern und setzten sich mit dem Bild, Gandhis Ideen und den unterschiedlichen Kulturen auseinander. Das Jugendprojekt „Die Gandhi-Brücke der Verständigung“ war aus der Taufe gehoben! Auch in den Folgejahren fanden Malwettbewerbe „Mahatma Gandhi – As I See Him“ in den unterschiedlichsten Regionen in Indien statt. Die Bilder wurden dann interessierten Schulen in verschiedenen Ländern zugeschickt, dort ausgestellt und im Unterricht behandelt. So entstanden zahlreiche Brieffreundschaften; Emails gab es ja damals noch nicht und der Kontakt zu einem Gleichaltrigen aus einer ganz anderen Kultur stellte etwas ganz besonderes dar. 28 Jahre nach dem ersten Malwettbewerb erhielt ich eine Email von einer der Preisträgerinnen, die mittlerweile in den USA lebte und dort verheiratet war. Sie erinnerte sich gerne an diese Veranstaltung, die, nach einen Angaben, ihren kulturellen Horizont und ihr Verständnis für Gandhi erheblich bereichert hatten.

Mit 34 Jahren erhielt ich vom Schriftstellerverband in Gujarat eine Auszeichnung für mein Lebenswerk, wobei ich den Eindruck hatte, dass mein Leben doch erst begann … Bei der Preisverleihung waren auch Prabhudasbhai mit seiner Familie, Abhabehn, Purushottam Gandhi und andere Zeitzeugen dabei, wodurch der Preis dann auch für mich eine gewisse Bedeutung erhielt.

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1992/1993

Das Jahr 1992 stellte für ich eine besondere Herausforderung dar, denn im Herbst, vor der geplanten Indienreise, wurde ein Tumor diagnostiziert, der zwar umgehend entfernt wurde und es keiner weiteren Therapie bedurfte aber ich musste mich dennoch mit der Thematik auseinandersetzen. Aus mehreren Blickwinkeln beschäftigte ich mich mit der Diagnose Krebs dahingehend, dass ich schon bald feststellte, das die Krankheit für mein Leben eine Bereicherung darstellte, ganz nach dem Motto „Krankheit als Chance“. In diesem und den kommenden Jahren war ich insgesamt viermal in der - damals wunderbaren - Sonnenbergklinik in Bad Sooden-Allendorf, wo ich verschiedene Therapiearten wie z.B. Tanztherapie, Rolfing oder Psycho-Onkologie kennen lernen durfte. Während der Behandlungsphase im Krankenhaus hatte ich zwei Operationen und wurde mit Medikamenten vollgepumpt. Eine präventive Chemotherapie lehnte ich zwar ab, aber ich hatte nach der Entlassung das Bedürfnis, den Körper zu entgiften. Das geschah teilweise in der schon erwähnten Sonnenbergklinik aber noch viel intensiver in Indien. Ich fragte einige meiner indischen Freunde nach einer geeigneten Einrichtung für eine Entgiftungskur. Mir wurde u.a. das Institute of Naturopathy and Yogic Sciences (INYS) nahe Bangalore empfohlen. Alleine fuhr ich Anfang 1993 in das INYS, das heute Jindal Naturecure Institute heisst und unternahm eine intensive Entschlackungskur. Ich hatte mich zunächst auf 14 Tage in der Kurklinik eingestellt. Nach drei Tagen war ich jedoch so begeistert von der Einrichtung, dass ich auf 42 Tage, dem maximal möglichen Zeitraum, verlängerte!  Der Tagesablauf bestand aus zügigen Spaziergängen, Yoga, Wassertherapien, Massagen, Physiotherapie, Fitnesstraining, Meditation und innerlichen Reinigungsübungen (Kriyas). Hinzu kam eine auf das Krankheitsbild ausgerichtete Diät. Für mich gehörte auch ein 10-tägiges Fasten mit Kokosnusswasser dazu. Alles geschah unter eingehender ärztlicher Aufsicht und folgte strikt den Erkenntnissen des Naturopathy und Yoga. Innerhalb von 42 Tagen nahm ich 14 kg ab und fühlte mich am Tag der Entlassung wie neu geboren. Die Haut war weicher und ich fühlte mich leichter, fröhlicher und besser. Dass der verbesserte körperliche Zustand auch einen direkten Einfluss auf die Psyche hat, stand dabei völlig ausser Frage. Es war eine wunderbare Erfahrung, die ich seit dem in etwa zweijährigen Abständen regelmässig geniesse. Mittlerweile hab ich durch Ernährungsumstellung und Sport auch den Jojo-Effekt überwunden und halte mein Normalgewicht.

Danach reiste ich mit meiner Freundin und späteren Frau Susanne auf Einladung eines dort lebenden Berliner Freundes erstmalig für ein paar Wochen nach Thailand, was für mich ein besonderes Erlebnis darstellte und den weiteren Verlauf meines Lebens stark beeinflussen sollte. Aber dazu später mehr.

Zunächst stand ein gemeinsamer Aufenthalt in Indien auf dem Programm, wo wir im zentralindischen Gopuri zu Gast waren bei Madalsa Narayan. Als wir Madalsabehn mitteilten, dass wir vorhaben für längere Zeit nach Indien zu gehen, war sie so begeistert, dass sie uns spontan anbot eine Verlobungszeremonie auszurichten. Nach kurzem Zögern und Überlegen erklärten wir uns dazu bereit und am nächsten Tag hatte Madalsabehn schon Dekoration und gutes Essen organisiert und ein paar Freunde eingeladen. In gemütlicher Runde wurden wir also verlobt, was wir so zwar nicht erwartet hatten aber dennoch geniessen konnten. Eine weitere Station war Rajkot, wo ich mittlerweile auf allen Indienreisen für ein paar Woche verweilte. Wir wohnten wieder bei der Familie von Prabhudasbhai und so bekam Susanne gleich einen guten Eindruck vom indischen Familienleben.

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1994

Ein paar Monate später waren wir wieder in Indien, um hauptsächlich an der alljährlichen Sarvodaya-Konferenz teilzunehmen, die diesmal in Savarkundla im südlichen Teil von Saurashtra stattfand. Es kamen über 3000 gandhische Sozialarbeiter zusammen zum Erfahrungsaustausch und auch, um sich kennenzulernen. Es waren zahlreiche noch lebende Mitarbeiter und Verwandte von Gandhi anwesend sowie viele Sozialarbeiter, die ich von früheren Reisen her kannte. Trotz der grossen Teilnehmerzahl war es wie ein Familientreffen, zumal auch alle Familienmitglieder von Prabhudasbhai an der Organisation der Konferenz beteiligt waren. Gleich nach der Ankunft wurden wir dem Bürgermeister von Savarkundla vorgestellt, mit dem Hinweis, dass wir im letzten Jahr im Haus von Madalsabehn verlobt wurden. Ohne zu Zögern und zu unserer totalen Verblüffung, bot er uns an, eine gandhische Hochzeitszeremonie im Rahmen der Konferenz zu organisieren. Wir hatten zwar im Prinzip eine Eheschliessung ins Auge gefasst, bis dahin aber über den Zeitpunkt und die Umstände keine Gedanken verschwendet. Wir brauchten Bedenkzeit! Innerhalb von 10 Minuten haben wir dann das Für und Wieder abgewogen. Wir sind in uns gegangen und haben uns dann zu diesem wichtigen Schritt entschieden. Zwar war uns bewusst, dass eine indische Hochzeit für uns keine Rechtsgültigkeit hat und eine standesamtliche in Deutschland folgen musste. Aber die Tatsache, dass wir mit einer Zeremonie, so wie sie in Gandhis Ashram üblich war und in Anwesenheit so vieler Zeitzeugen und gandhischer Sozialarbeiter uns das Ja-Wort geben würden, hatte für uns eben soviel Gewicht- wenn nicht sogar mehr – wie die nachfolgende standesamtliche Trauung in Berlin. Übrigens war es kein Problem für uns dafür einen Termin zu bestimmen, da wir beide am gleichen Tag, dem 12. Mai Geburtstag hatten. Aber zunächst einmal stand die indische Hochzeit an in gandhischer Tradition. In der Kürze der Zeit, die Konferenz dauerte vier Tage, wurden unsere Hochzeitskleider geschneidert und die für eine hinduistisch-gandhische Hochzeit üblichen Utensilien besorgt. Innerhalb von zwei Tagen war alles bereit. Am Morgen des dritten Konferenztages, als alle etwa 3000 Teilnehmer ihre Plätze eingenommen hatten, begann ein Hindupriester mit der Zeremonie, die u.a. auch die traditionellen sieben Schritte ums Feuer beinhaltete. Es wurde aus den Sanskrittexten vorgelesen, einige Rituale vollzogen und schliesslich steckten wir uns gegenseitig eine Süssspeise in den Mund. Das war der hinduistische und nun kam der gandhische Teil, so wie er in zahlreichen, im Sevagram-Ashram vollzogenen Hochzeiten durchgeführt wurde: wir lasen ein Kapitel aus der Bhagavadgita, wir segneten die Kuh und spannen ein gewisses Quantum Garn, bevor wir unsere Gäste bewirteten, vielleicht nicht alle 3000 aber zumindest die, die in der ersten Reihe sassen. Im Anschluss daran, kamen etliche Weggefährte von Gandhi zu uns uns beglückwünschten uns. Wir erhielten kleine Geschenke und hielten small talk mit einigen Veteranen, die wir hier das letzte Mal gesehen haben sollten. Für uns war das ein wunderbares Erlebnis, war wir getrost als Traumhochzeit bezeichnen konnten. Auch heute werde ich noch im gandhischen Kreis auf diese Hochzeit angesprochen. Leider war das Experiment nicht erfolgreich, da die Ehe, die dann am 12. Mai 1994 standesamtlich in Berlin vollzogen wurde, nicht lange hielt. Die guten Wünsche der vielen tollen Menschen in Savarkundla waren leider keine Garantie für eine gute und haltbare Beziehung. Die Tage in Savarkundla möchte ich dennoch nicht missen!

Nach über 5 Jahren hatte ich die lose Fotosammlung von Vithalbhai Jhaveri in ein gut organisiertes, ca. 300 kg schweres Archiv überführt, das im September 1994 mit einer Spedition per Flugzeug nach Indien geschickt wurde. Das geschah eine Woche bevor ich die Reise antrat, in der Hoffnung, bzw. mit der Vereinbarung, dass der indische Partner unserer Spedition die zu reimportierende Ware dann bereits dem Eigentümer der Fotos zugestellt hat. Das war meine Planung in Deutschland, die indische Realität sah jedoch anders aus: bei meiner Ankunft wurde mir von der Partnerspedition mitgeteilt, dass der Zoll die Ware nur gegen Zahlung einer hohen Gebühr herausgibt. Bei einem Besuch der zuständigen Dienststelle auf dem Flughafen in Bombay wurde diese Auskunft bestätigt. Ich war entsetzt, da es sich bei den Fotos ja um Ware handelte, die aus Indien stammte und auf die normalerweise keine Zollgebühren zu erheben sind. Außerdem erlebte Bombay Mitte September die letzten Tage des Monsoons, die Luftfeuchtigkeit betrug nahezu 100%, und die Pakete lagen in einer halboffenen Lagerhalle auf dem Flughafen! Es war also ein Wettlauf mit der Zeit, um die Fotos unbeschadet aus dem Zoll zu bekommen. Ich habe meine nächtelange Arbeit am Computer und der Reprokamera schon wegschwimmen sehen, zumal sich der Mitarbeiter der Zollbehörde auch auf wiederholte Nachfrage als unnachgiebig erwies. Er hatte zwar keine Rechtsgrundlage für seine Auskunft, dieses Verhalten war mir jedoch nicht unbekannt. Schließlich ist Indien berühmt für seine korrupten Beamten ... Natürlich war ich nicht bereit mich auf dieses Spiel einzulassen, handelte es sich doch um Gandhis Fotos, der sich selbst zeitlebens für Wahrheit, Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit eingesetzt hat!

Von Gandhi lernen, heißt auch die Medien für seine Zwecke sinnvoll einzusetzen, was ich dann auch tat: vom Zollbüro am Flughafen fuhr ich schnurstracks zum Gandhi-Museum, wo ich, noch ziemlich aufgebracht, das gerade Erlebte meiner ‚gandhianischen Mutter‘, Dr. Usha Mehta, erzählte. Bei dem Treffen war auch ein Journalist der Tageszeitung Times of India dabei, den dieser Fall sehr interessierte und dem ich dann auch weitere Details mitteilte und Hintergrundinformationen gab. Bereits am nächsten Tag erschien auf der Titelseite der landesweit gelesenen englischsprachigen Zeitung Sunday Times ein ausführlicher Bericht über den Fall, der zu einiger Empörung in der Bevölkerung über das Verhalten des Zolls führte. Da auch der damalige Finanzminister, Manmohan Singh, der sich sehr bemühte das angeschlagenen Renommee der indischen Zollbehörde zu verbessern, den Artikel las, hat er - noch am gleichen Sonntag - eine umgehende Untersuchung veranlasst. Er rief den Chef der Zollbehörde in Bombay an und selbiger bestellte umgehend seine leitenden Mitarbeiter ins Büro um Klarheit über den Fall zu erhalten. Es gab jedoch keinen Hinweis in den Akten, dass für den Reimport unserer Warensendung Zollgebühren zu erheben sind und somit war klar, dass der Zollmitarbeiter, den ich am Flughafen traf, illegalerweise versuchte, von mir Geld einzufordern. Es wurde veranlasst, die Fotos mir schnellstmöglich und reibungslos auszuhändigen, um weiteren Schaden von der Zollbehörde abzuwenden. Ich erhielt dann Montagfrüh einen Anruf, wo ich zum Zoll auf das Flughafengelände gebeten wurde. Ich wurde sehr freundlich begrüsst, zum Tee eingeladen und es wurde mir versichert, dass es sich bei dem Ganzen um ein bedauerliches Missverständnis handelte. Am nächsten Tag wurde die umfangreichste Foto-Sammlung von Mahatma Gandhi und der indischen Unabhängigkeitsbewegung seinem Eigentümer zugestellt – zollfrei. Die Fotos hatten sich zum Glück als gut verpackt erwiesen und haben den feuchten Aufenthalt in der Flughafenhalle unbeschadet überstanden. Im weiteren Verlauf wurde mit der Dinodia Picture Agency, der führenden indischen Bildagentur, eine Kooperation vereinbart, wo die Bilder weltweit für Publikationen und Forschungszwecken angeboten wurden. Nach der Gründung von GandhiServe im Jahr 1999 und der Erstellung einer entsprechenden Website habe ich dann auch selbst die Bilder aus der Jhaveri-Sammlung, sowie auch von Kanu Gandhi und zahlreichen anderen Fotografen Gandhi’s, vermarktet. Im weiteren Verlauf wurde das gesamte Material auch hochauflösend gescannt und kann auf der website www.gandhimedia.org eingesehen werden.

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1995

 

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1996

Endlich konnte ich die Gastfreundschaft, die ich in den letzten Jahren in Indien erfahren und genossen hatte, zurückgeben: Yogeshbhai besuchte mich mit seiner Frau Saroj und den Kindern Sweta und Nandan in Berlin! Ich hatte dem Museum Haus am Checkpoint Charlie Gandhis Holzlatschen, sein Tagebuch und andere Originale als 10-jährige Leihgabe vermittelt, die sich im Besitz von Yogeshs Grossvater, Prabhudasbhai Gandhi befanden. In einer medienwirksamen Veranstaltung präsentierte das Museum stolz die Exponate der Öffentlichkeit, die im Anschluss daran in die Dauerausstellung „Von Gandhi bis Walensa“ eingebaut wurden. Das Museum gehörte damals zu den am besten besuchten Museen Berlins, was bedeutete, dass die Objekten im Jahr von über 1 Mio. Museumsbesuchern gesehen wurden. Es war vereinbart, das die Besitzer der Materialien in 10 Jahren wieder nach Berlin kommen und die Sachen abholen sollten. Wir waren alle sehr zufrieden mit der getroffenen Vereinbarung und konnten uns nicht im Traum vorstellen, welche Entwicklung das Ganze noch nehmen sollte. Zunächst verbrachte ich mit meinen Gästen einen schönen Sommer in Europa, wir besuchten Amsterdam, Paris und London und nahmen and der Gandhi Summer School der englischen Gandhi Foundation teil. Das Lehrerehepaar und die beiden Teenager waren sehr an allem Neuen interessiert, wozu auch Rolltreppen und Doppeldeckerbusse gehörten. Als wir von der Spitze des Eiffelturms Sarojs Eltern in Bhavnagar anriefen, waren diese ganz aus dem Häuschen und wollten nicht glauben, dass das möglich ist. Ich hatte bislang viel Schönes aus Ihrem Leben in Rajkot kennengelernt und nun machte es mir Spass Ihnen ein wenig vom europäischen Leben zu vermitteln. In den kommenden Jahren besuchte ich hin und wieder das Museum Haus am Checkpint Charlie und überzeugte mich, in Yogeshbhais Auftrag, vom Zustand der Gandhi-Originale. Kurz bevor die 10-jährige Leihfrist abgelaufen war, verkündete das Museum ihr Interesse diesen Zeitraum um weitere 10 Jahre zu verlängern. Sie konnten sich jedoch mit dem Besitzer nicht auf die Konditionen einigen und so hätte es zur Rückgabe der wertvollen Originale kommen müssen. Das Museum lehnte das jedoch ab und legte es auf einen Rechtsstreit an, in dem ich im Auftrag der Eigentümer handelte und mehrere gute Anwälte einsetzte. Nach langem und intensiven Bemühen war es uns aufgrund der schwächeren finanziellen Position nicht möglich, die Materialien zurückzuerhalten. Sie wurden also vom Museum Haus am Checkpoint Charlie unrechtmässig einbehalten und wir waren nicht in der Lage gegen diesen Rechtsbruch erfolgreich vorzugehen! Dass wir diesen jahrelangen Kampf nicht gewinnen konnten, gehörte zu meinen schlimmsten Erfahrungen!

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1998

In diesem Jahr vollzog ich einen drastischen Bruch in meinem Leben: ich kündigte meine sichere Stelle and der Universität und zog aus der Wohngemeinschaft aus, in der ich die letzten 16 Jahre lebte … und zog nach Indien. Genauer gesagt nahm ich mir eine Wohnung in Mumbai, ganz in der Nähe des Gandhi-Museums und gleich gegenüber vom Gandhi Book Centre. Das Internet verbreitete sich immer mehr und ich versuchte mich mit Hilfe dieses neuen Mediums als Gandhi-Experte zu etablieren. Meine bislang erfolgten Bemühungen, Originalmaterialien von Gandhi zu identifizieren und zu konservieren, wollte ich auf eine breitere Ebene heben und die sieben offiziellen Gandhi-Museen einbinden. Ich war überzeugt, dass wir in gemeinsamer Anstrengung einen Grossteil der in Indien befindlichen Fotos, Dokumente, Filme, Tonaufzeichnungen usw. vom Verfall retten, sie konservieren und der internationalen Nutzung zuführen könnten. Dafür besuchte ich alle Gandhi-Museen und sprach mit den jeweiligen Direktoren, die ich alle schon seit Jahren persönlich kannte. Generell waren sie von der Idee angetan aber nicht wirklich bereit in ein Gemeinschaftsprojekt zu investieren. Ich bemühte mich mehrere Monate, die Herren an einen Tisch zu bekommen, um das Projekt zu sanktionieren – und scheiterte kläglich. Es gab auch hier wieder etliche Gründe keine Verantwortung zu übernehmen. Letztlich verstand ich, dass jede Einrichtung ihren eigenen Herrschaftsbereich hat und weder Interesse noch Mut mit anderen Museen zu kooperieren. Das war eine sehr enttäuschende Erfahrung, denn ich bin sicher, dass zu diesem Zeitpunkt noch viele Materialien hätten gerettet werden können, die mittlerweile verrottet oder anderweitig verschwunden sind.

Von Indien aus unternahm ich eine Reise in die Vereinigten Arabischen Emirate, wofür ich mir zunächst ein Visum in Neu-Delhi besorgen musste. Ich füllte das Formular ordnungsgemäss aus und gab es der indischen Mitarbeiterin der Botschaft. Als sie sah, dass ich Deutscher war fragte sie mich, warum ich das Visum in Indien beantrage und was ich hier mache. Ich antwortete ihr, das ich mich für Gandhi interessiere und entsprechende Projekte und Menschen treffe. Sie bekam glänzende Augen und teilte mir mit, dass ihr Onkel Gandhis Sekretär war und sie als kleines Mädchen Gandhi auch traf in seinem Ashram. Es war für mich nicht schwer zu erraten, dass es sich bei dem Onkel um Pyarelal Nayar handelte. Und da ich ein Foto von Kanu Gandhi vom August 1944 kannte, auf dem Gandhi der Nichte von Pyarelal, die Nandini hiess, eine Banane zu ihrem Geburtstag schenkte, fragte ich sie geradewegsheraus, ob sie evtl. Nandini hiesse, was sie mit einem nur schwer zu beschreibenden Emotionsausbruch bejahte! Wir unterhielten uns kurz über ihre Kindheit und meine Arbeit und ich bin sicher, dass die anderen, hinter mir Wartenden sich wunderten, was bei einer Visumsbeantragung so viel Heiterkeit auslöst. Das Visum erhielt ich dann natürlich anstandslos und die Reise nach Dubai konnte losgehen. Ein Grund der Reise, war die Begegnung mit dem Sohn von Madalsabehn, der in Dubai eine grosse Kartoffelchips-Fabrik besass und von dort aus ganz Afrika mit Chips versorgte. Ich kannte Bharat nur von ein paar Fotos, wo er als Kleinkind auf Gandhis Arm war. Für ein paar Tage war ich sein Gast und er hat mir viel aus seiner Kindheit und den Begegnungen mit Gandhi erzählt. Es war bei Bharat sowie bei vielen anderen, die Gandhi kannten und schätzten, interessant zu sehen, was er von den gandhischen Idealen in seinem eigenen Leben umsetzte. Nur wenige haben Gandhi ganzheitlich gesehen, verstanden und für ihr eigenes Leben akzeptiert, jeder hat jedoch den einen oder anderen Aspekt übernommen, ob es nun Pünktlichkeit, Präzision und Effizienz bei der Arbeit, Sauberkeit, schlichte aber gesunde Ernährung, Sparsamkeit, körperliche Betätigung oder der Einsatz für Benachteiligte war. Ich führte zahlreiche Interviews mit Mitarbeitern von Gandhi und Zeitzeugen, die ihn gekannt haben und fragte alle, welche Qualität sie an Gandhi am meisten geschätzt haben. Erstaunlicher- und interessanterweise kam immer wieder die gleiche Antwort: Gandhi hatte die Fähigkeit die Qualitäten und Unzulänglichkeiten in Menschen zu sehen und half ihnen, die positiven Eigenschaften zu stärken und die negativen auszumerzen – ohne diese Menschen von sich selbst, d.h. von Gandhi, abhängig zu machen. Das sind die Qualitäten eines wahres Gurus (Lehrers), vor denen viele profitierten. Allerdings wollte Gandhi gar kein Guru sein, denn, ganz gemäss dem Titel seiner Autobiografie „Die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit“, hat Gandhi sich als seinen eigenen Schüler wahrgenommen, der mit seinen eigenen Fehlern und Unzulänglichkeiten sehr kritisch und offensiv umging. Gandhi wollte andere inspirieren, ebenfalls ‚Experimente mit der Wahrheit‘ durchzuführen und sagte einmal, als er nach seiner Botschaft gefragt wurde: „Mein Leben ist meine Botschaft“. Von einem intensiven Studium von Gandhis Leben und Wirken kann ein jeder profitieren, auf die eine oder andere Weise.

Ich kehrte aus Dubai zurück und bemühte mich in Indien beruflich Fuss zu fassen. Ich war auch Mitglied im Internationalen Netzwerk für Friedensmuseen und nahm im gleichen Jahr an einer Konferenz in Japan teil, wo ich auch Gandhis Enkel Arun und seine Frau Sunanda kennenlernen durfte. Ihr Sohn Tushar war damals arbeitslos in Mumbai und wusste nichts rechtes mit seinem Leben anzufangen. So baten mich seine Eltern, die in den USA lebten, ihn doch etwas unter die Fittiche zu nehmen und ihn daran zu erinnern, dass er der Grossenkel von Gandhi ist.

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(Fortsetzung folgt - vielleicht) 

 

 

Hinweis

Alle in dem Buch erwähnten Medien wurden aufwändig digitalisiert und bearbeitet und stehen zur Ansicht und Download auf www.gandhimedia.org, im GandhiServe-Kanal von YouTube - www.youtube.com/user/gandhiserve - und auf www.gandhiserve.net zur Verfügung.